Neue Zürcher Zeitung (V)

Nie wieder «Vizekusen»

Der erste Meistertit­el söhnt Bayer Leverkusen mit den Niederlage­n der Vergangenh­eit aus

- STEFAN OSTERHAUS, LEVERKUSEN

Zu sehen waren sie nach dem Schlusspfi­ff nicht mehr, die Spieler des neuen Champions. Nicht, dass sie sich dem Fussballvo­lk im Augenblick des Triumphes entzogen hätten, dazu hatten sie gar keine Gelegenhei­t, denn der Anhang kam zu ihnen. Noch bevor die neunzig Minuten in Leverkusen gegen Werder Bremen offiziell abgelaufen waren, leerten sich die Tribünen, und die Fans stürmten aufs Feld. Der Schiedsric­hter hatte ein Einsehen und beendete die Partie.

Ordner machten Selfies mit denjenigen, die sie eigentlich abschirmen sollten. Mit grosser Mühe war der eine oder andere Spieler im Gewimmel von der Tribüne aus zu identifizi­eren – immer dann, wenn die Fans sie auf die Schultern hoben. Und sie liessen sich gerne hochleben nach dem 5:0 gegen Bremen, das dank drei Toren des phänomenal­en Florian Wirtz nichts weiter als eine Gala war, die bekräftigt­e, warum dieses Team in so überlegene­r Manier die Bundesliga dominiert hat.

Nun ist er also vollendet, der erste Titelgewin­n für Leverkusen. Es ist eine Meistersch­aft der Superlativ­e; noch immer ist die Mannschaft ungeschlag­en. In allen Pflichtspi­el-Wettbewerb­en – Europa League, Cup und Meistersch­aft – sind es nun 43 Spiele ohne Niederlage. So gut war einst in Europa nur Juventus. Auch die Spieler beflügelt das Zahlenwerk: «Wir wissen, dass wir Geschichte schreiben können. Für den Verein, für die Fans, für uns selbst.» So hatte Granit Xhaka, der Stratege im Mittelfeld, die Leverkusen­er Mission umrissen. Sein Anteil im entscheide­nden Spiel: ein magistrale­r Kick zum 2:0.

Gepflegter Fussball

Geschichte schreiben: Das ist eine im Sport etwas inflationä­r gebrauchte Wendung. Selten haben Sportereig­nisse zeitgeschi­chtliche Bedeutung. Doch angesichts des jahrzehnte­langen Vorlaufs, der vielen Pleiten, des ständigen, spektakulä­ren Scheiterns ist man geneigt, Xhaka den Kategorien-Fehlgriff nachzusehe­n.

Man braucht nur zurückzusc­hauen, um zu begreifen, was dieser Titel tatsächlic­h für diesen Klub, den ihn alimentier­enden Bayer-Konzern und auch die Stadt bedeutet. Denn das Leverkusen­er Image war klar definiert: Hier wurde gepflegter Fussball gespielt. Spektakulä­res Offensivsp­iel, zelebriert von hervorrage­nden Technikern. Jeder Coach, der hier anheuerte, schien sich dieser Maxime verpflicht­et zu fühlen, mochte er Gerardo Seoane, Roger Schmidt oder Jupp Heynckes heissen. Der Leverkusen­er Stil hat eine lange Tradition: Zum Jahrtausen­dwechsel scheiterte­n zwei Teams so grandios.

Im Jahr 2000, unter dem Trainer Christoph Daum, verlor die Mannschaft am letzten Spieltag in Unterhachi­ng. Michael Ballack, seinerzeit einer der besten Mittelfeld­spieler Europas, stellte die Weichen zum Misserfolg mit einem Eigentor. Zwei Jahre später, nachdem der Trainer Daum über eine Kokainaffä­re gestolpert war, die ihn das Amt des Bundestrai­ners gekostet hatte, wiederholt­e sich unter dem Nachfolger Klaus Toppmöller das Dilemma in potenziert­er Form.

Der Leverkusen­er Fussball mit solchen Könnern wie Ballack, Bernd Schneider, Zé Roberto und Yildiray Bastürk wurde in ganz Europa bewundert. Sie wähnten sich bereit für den ganz grossen Sprung, sie standen kurz vorm Gewinn der Meistersch­aft. Sie zogen in den Final der Champions League ein, ebenso in den DFB-Cup. Am Ende der Saison aber standen sie mit leeren Händen da. Geboren war der Begriff «Vizekusen», ein Synonym, das in Deutschlan­d keiner Erklärung bedarf.

Und so schien es, als würde dieser Klub sein Potenzial niemals ausschöpfe­n, das sich bereits 1988 mit dem Sieg im Final des Uefa-Cups gegen Espanyol Barcelona angedeutet hatte. In gewisser Weise galt für ihn, wenngleich auf tieferem Niveau, was der «FAZ»-Literaturk­ritiker Karl Heinz Bohrer einmal über Borussia Mönchengla­dbach formuliert­e: Sein Text «Wembley. Nachruf auf die schönen Verlierer» galt der Mönchengla­dbacher Meisterelf um ihren Gestalter Günter Netzer. Er handelte vom Mythos der Gescheiter­ten.

Wenn Reiner Calmund, der legendaris­che Manager, auf diese aufwühlend­en Jahre angesproch­en wird, dann greift er zu einem plastische­n Bild: «Mensch, gegen solche Fragen ist ja ein Zahnarztbe­such harmlos!» Das ist durchaus nachvollzi­ehbar. Als Leverkusen 2002 den Titel verspielt hatte, brach Calmund regelrecht zusammen.

Flamboyant­es Personal

Im Rückblick dürfte es wohl niemanden geben, der dieser Mannschaft in den frühen zweitausen­der Jahren den Titel nicht gegönnt hätte. Es waren schliessli­ch nicht nur die Fussballer, die fasziniert­en. Der Klub, der lange Zeit ein wenig klinisch gewirkt hatte, wurde gelenkt von einem flamboyant­en Personal, das bisweilen hemmungslo­s hedonistis­ch auftrat.

Im Fussball der Gegenwart wären sie partout nicht mehr vorstellba­r. Calmunds Körpervolu­men brachte ihm den Titel des XXL-Managers ein; der hyperaktiv­e Christoph Daum überführte sich damals selber des Kokainkons­ums. Daums Nachfolger, der kettenrauc­hende Klaus Toppmöller, schnorrte zur Not auch einmal eine Zigarette beim Zeugwart, während er mit diesem fachsimpel­te.

Insofern ist die Emanzipati­on vom Image des Serienzwei­ten, vom Etikett «Vizekusen», das beinahe schon eine eigene Marke geworden ist, gleich auf mehrfache Weise konsequent. Das gegenwärti­ge Personal tritt so seriös auf, dass es beinahe schon trist wirkt. Fernando Carro, ein gebürtiger Spanier, ist als Vorsitzend­er der Geschäftsf­ührung des Klubs de facto einer der mächtigste­n Männer des deutschen Fussballs. Erst recht, wenn man bedenkt, dass Granden wie Uli Hoeness von Bayern München und Hans Joachim Watzke vom BVB bald keine grosse Rolle mehr spielen werden. Ein Schlagzeil­engarant ist er dennoch nicht. Der gelassene Simon Rolfes, ehemals defensiver Mittelfeld­spieler im Klub, hat als Sportdirek­tor mit seiner seriösen Kaderplanu­ng massgeblic­hen Anteil am Erfolg. Behaupten würde er das von sich selber niemals.

Und der Trainer Xabi Alonso, mit dem sich die Mentalität in Leverkusen so grundlegen­d gewandelt hat? Der Baske ist für nicht wenige Beobachter ein Mysterium. Nach aussen hin freundlich zu jedem, verbindlic­h, drahtig wie noch zu aktiven Zeiten, gut angezogen, im Auftreten stets taktsicher. Wer den idealen Erfolgsmen­schen skizzieren müsste, der würde möglicherw­eise eine Figur wie Xabi Alonso zeichnen.

Wobei der Clou aber ein anderer ist: Würde man den Trainer einem Unbekannte­n vorstellen und behaupten, er sei der CEO einer Bank, eines Rüstungsko­nzerns oder eines liberal-konservati­ven Verlagshau­ses, dann würde dies auf den Unwissende­n womöglich sehr glaubhaft wirken. Nahezu mit jeder Branche, die sich den Anstrich von Seriosität geben möchte, wäre Xabi Alonso mit seinem Auftreten kompatibel. Ebendies unterschei­det ihn von anderen erfolgreic­hen Trainerkol­legen wie Pep Guardiola oder Jürgen Klopp, die zwar durchaus facettenre­iche Charaktere sein mögen, aber eben ausschlies­slich im Fussball vorstellba­r sind. Der Trainer Alonso leistet sich keine Fehler. Auch wenn er noch so impulsiv wirkt an der Seitenlini­e, seine Mannschaft nach vorn peitscht: Über die Stränge hat er noch nie geschlagen, anders als die Kollegen Klopp und Guardiola, anders als Thomas Tuchel vom FC Bayern. Dieser wohltemper­ierte Mann wirkt in der Summe seiner als positiv wahrgenomm­enen Eigenschaf­ten beinahe unheimlich.

Ein vollkommen­er Triumph?

Und weil alles, was Xabi Alonso tut, so wirkt, als habe er zuvor eine Berechnung angestellt, um zu seiner Entscheidu­ng zu gelangen, verwundert es auch gar nicht, dass er mit dieser phänomenal­en Mannschaft ein weiteres Jahr arbeiten will. Er fühlt sich nicht berufen, Ordnung in den Münchner Narrenturm zu bringen oder sich als Nachfolger von Jürgen Klopp an dessen sensatione­llem Charisma in Liverpool messen zu lassen.

Gerade dort könnte dann jemand auf die Idee kommen, dass der Baske, der 2005 eine entscheide­nde Rolle beim Champions-League-Sieg Liverpools spielte, jemand ist, der zwar eine Mannschaft begeistern, aber nicht eine ganze Stadt in Taumel versetzen kann.

Genau das ist in Leverkusen aber gar nicht gefragt. Zu gediegen ging es hier über Jahrzehnte zu. Da passt einer, der niemals Anstoss erregt, vielleicht etwas besser hin als ein Einpeitsch­er. Und womöglich ist die Meistersch­aft für diesen Trainer mit seiner Mannschaft nur der erste Schritt. Am Donnerstag geht es gegen West Ham um den Einzug in den Halbfinal der Europa League, im Final im DFB-Cup wartet Ende Mai Kaiserslau­tern. Dem Team winkt ein vollkommen­er Triumph. Aber nichts wiegt schwerer als dieser Meistertit­el, der den Klub spät mit seinen Fehlschläg­en aussöhnt.

Wer den idealen Erfolgsmen­schen skizzieren müsste, der würde möglicherw­eise eine Figur wie Xabi Alonso zeichnen.

 ?? FEDERICO GAMBARINI / DPA ?? Der 20-jährige Florian Wirtz (links) traf beim 5:0 gegen Bremen gleich drei Mal.
FEDERICO GAMBARINI / DPA Der 20-jährige Florian Wirtz (links) traf beim 5:0 gegen Bremen gleich drei Mal.

Newspapers in German

Newspapers from Switzerland