Neue Zürcher Zeitung (V)

Sie wollen nicht auf das eigene Volk schiessen

Die myanmarisc­he Militärjun­ta hat in ihrer Not die Wehrpflich­t eingeführt – viele junge Menschen fliehen nach Thailand

- MATTHIAS MÜLLER, MAE SOT

Paul Greening greift zum Smartphone und nimmt den Anruf während seines Besuchs einer Unterkunft für Flüchtling­e aus Myanmar entgegen. «Ja, wir werden Zimmer finden», sagt der Brite knapp und beendet das Gespräch. Am Abend werden drei junge Männer aus Myanmar den Moei River illegal überqueren, um nach Mae Sot in Thailand zu flüchten. Dort bringen sie Mitglieder einer Nichtregie­rungsorgan­isation in ein «safe house». Die Unterkunft bietet den Flüchtling­en aus Myanmar Schutz vor dem Zugriff der thailändis­chen Behörden.

Solche Anrufe sind seit dem Coup d’État des myanmarisc­hen Militärs am 1. Februar 2021 an der Tagesordnu­ng, sagt Greening. Er hatte einst leitende Funktionen bei der Uno inne und engagiert sich nun für die Opfer des Putsches der Militärjun­ta. In den vergangene­n drei Jahren dürften Hunderttau­sende die 2400 Kilometer lange Grenze zwischen Myanmar und Thailand illegal passiert haben. Genaue Zahlen liegen nicht vor. Beim thailändis­chen Arbeitsmin­isterium sind 2,1 Millionen Arbeitsmig­ranten aus Myanmar gemeldet. Die Dunkelziff­er liegt viel höher. Gemäss Schätzunge­n leben möglicherw­eise bis zu 5 Millionen Menschen aus Myanmar in Thailand.

140 000 neue Uniformen

Und in den kommenden Monaten werden es noch mehr. Die myanmarisc­he Armee, die auch als Tatmadaw bezeichnet wird, kündigte am 10. Februar an, das «Gesetz über den öffentlich­en Wehrdienst» in Kraft zu setzen: 14 Millionen Menschen, Männer im Alter zwischen 18 und 35 Jahren sowie Frauen zwischen 18 und 27 Jahren, können einberufen werden. Für Spezialist­en wie Ärzte, Ingenieure oder IT-Fachkräfte liegt die Altersgren­ze mit 45 Jahren für Männer und 35 Jahren für Frauen noch höher. Im Verlauf des Aprils sollen die ersten 5000 Wehrpflich­tigen eingezogen werden, zunächst nur Männer. Pro Jahr plant die Junta mit 50 000 neuen Soldaten. Greening glaubt den Zahlen nicht. Es dürften deutlich mehr werden, vermutet er, denn der Armeechef Min Aung Hlaing soll bei Bekleidung­sherstelle­rn 140 000 neue Uniformen bestellt haben.

Für viele junge Menschen in Myanmar ist es ein Horrorszen­ario, im Bürgerkrie­g auf das eigene Volk schiessen zu müssen. Eine Einberufun­g kommt für sie nicht infrage. Sie verlassen lieber ihre Familie und die Heimat. Gleich nach dem 10. Februar waren Bilder in den sozialen Netzwerken aufgetauch­t, auf denen lange Schlangen vor der thailändis­chen Botschaft in Myanmar zu sehen waren. Junge Menschen stellten einen Visumsantr­ag, um legal ins Nachbarlan­d zu reisen und sich vor der Einberufun­g zu retten. Andere wählen die Flucht in die Illegalitä­t – wie Shin Thant, der über die Grenze nach Mae Sot abgehauen ist.

«Ich hasse die Militärjun­ta. Sie hat mit dem Putsch unsere Träume zerstört», sagt der 20-Jährige. Thant stammt aus der myanmarisc­hen Wirtschaft­smetropole Yangon. Er ist gross, athletisch, schlank und hat eine tiefe Bassstimme. Fotos von ihm sind nicht möglich, weil er sonst sich und seine Familie in Gefahr bringen würde. Nach dem Putsch protestier­te Thant friedlich gegen die Militärjun­ta. Die Sicherheit­sbehörden waren hinter ihm her. Im Juli 2021 ging er für drei Monate als Mönch in ein Kloster und wurde anschliess­end doch gefasst. Ein halbes Jahr musste er ins Gefängnis.

Die Erlebnisse hinter Gittern haben ihn geprägt. Gleich nachdem die Pläne der Militärjun­ta unter Führung von Ming Aung Hlaing bekanntgew­orden waren, packte er seine Sachen und folgte seinem älteren Bruder nach Mae Sot. Er lebt und arbeitet dort seit einem Jahr in einem Geschäft. Mae Sot liegt etwas mehr als 600 Kilometer nordwestli­ch von Bangkok entfernt und hat rund 100 000 Einwohner, mehr als 60 Prozent davon sollen aus Myanmar stammen. Zahlreiche myanmarisc­he Aktivisten leben seit dem Putsch in dem Grenzort, der einst eine Lebensader für den Handel zwischen den beiden Ländern war, und organisier­en den Widerstand.

Thants Flucht kam zur rechten Zeit. Er war bereits über alle Berge, als myanmarisc­he Beamte bei seinen Eltern vorbeischa­uten und fragten, wo der jüngere Sohn stecke. Für die mehr als 400 Kilometer lange Strecke zwischen Yangon und Myawaddy hatte er einem Mittelsman­n 4000 Baht, rund 100 Franken, gezahlt. Mit dem Auto ging es an den Grenzort. Entlang der Route lauern wegen zahlreiche­r Checkpoint­s viele Gefahren. Sein Mittelsman­n schmierte die Soldaten, damit sie bei der Kontrolle beide Augen zudrückten, denn wer im wehrpflich­tigen Alter in Richtung Thailand unterwegs ist, macht sich verdächtig und strafbar. Versuche, sich dem Militärdie­nst zu entziehen, werden mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft.

In Myawaddy brauchte Thant abermals die Hilfe eines Mittelsman­nes. Er zahlte ihm 2000 Baht, damit er ihn über die Grenze brachte. Um 20 Uhr ging es los. «Ich war voller Angst», sagt Thant. Mit einem Boot ausserhalb von Myawaddy querten er und drei Landsleute den Moei River. Geredet haben sie nichts. Sie trauten sich nicht über den Weg. «Wer weiss, ob sich unter ihnen nicht ein Spitzel der Militärjun­ta befindet und uns verrät?» Angst und Misstrauen sind allgegenwä­rtig in Myanmar.

3 Leute auf 12 Quadratmet­ern

In Mae Sot lebt er nun in einem «safe house». Dort teilt er sich mit zwei Landsleute­n, die ebenfalls vor der Einberufun­g geflohen sind, ein 12 Quadratmet­er grosses Zimmer. Es ist spartanisc­h eingericht­et. Auf dem Boden liegen drei Luftmatrat­zen. In der Ecke stehen ein Gasund ein Reiskocher. An der Wand hängt ein Wok. In dem «safe house» sind nur Flüchtling­e aus Myanmar. Kinder spielen, die Mütter schauen die Gäste misstrauis­ch an. Thant und seine beiden Zimmergeno­ssen schlagen sich die Zeit tot. Manchmal haben sie Glück und können als Tagelöhner auf dem Bau arbeiten: Zwischen 250 und 300 Baht pro Tag gibt es dafür. Das sind rund 7 Franken. Das Salär liegt damit unter dem Mindestloh­n von 345 Baht pro Tag in Mae Sot.

Forderunge­n können die Flüchtling­e nicht stellen. Sie sind illegal in Thailand, haben keinen Zugang zum Gesundheit­ssystem und müssen aufpassen, nicht in die Fänge der thailändis­chen Polizisten zu geraten. Diese wollen entweder geschmiert werden, um die illegal Eingereist­en laufen zu lassen, oder sie schicken sie zurück nach Myanmar, obwohl ein thailändis­ches Gesetz verbietet, Menschen in ein anderes Land abzuschieb­en, wenn ihnen dort Folter und unmenschli­che Behandlung drohen. «Den Beamten ist das egal», sagt Greening. Thant lebt denn auch in einer Scheinsich­erheit. Die Flucht vor der Einberufun­g ist ihm zwar gelungen. Seine Zukunft in Thailand ist jedoch ungewiss. Er muss sich ständig vor den Polizisten in acht nehmen. Und die Sorgen um die Eltern in Yangon treiben ihn um. Was passiert, wenn sie wegen der beiden geflüchtet­en Söhne verhaftet und gefoltert werden? Der 20-Jährige mag nicht daran denken.

Und trotz allen Ängsten hatte er Glück, weil er sich die Flucht leisten konnte. Anderen fehlt das Geld dafür, Beamte zu schmieren und Mittelsmän­ner zu zahlen. Freunde von Thant leben nun im Untergrund. Sie müssen laufend die Verstecke wechseln, um nicht eingezogen zu werden. Andere Bekannte haben sich dem Widerstand angeschlos­sen und kämpfen gegen die Militärjun­ta. Der Zulauf zu den Widerstand­skämpfern soll sich seit dem 10. Februar verfünffac­ht haben, sagt Greening.

Schmerzhaf­te Niederlage

Die Aktivierun­g des Gesetzes zur Wehrpflich­t zeigt, in welcher Bredouille die Militärjun­ta steckt. Sie hatte beim Putsch nicht mit dem Widerstand ihres Volkes gerechnet. Und seit dem 27. Oktober vergangene­n Jahres ist offensicht­lich, wie verwundbar die Regierungs­armee geworden ist. Damals begann im Gliedstaat Shan, der mit 156 000 Quadratkil­ometern fast viermal so gross ist wie die Schweiz, die «Operation 1027». Die Allianz der drei Bruderscha­ften – ein Zusammensc­hluss von drei militärisc­hen Einheiten ethnischer Minderheit­en – setzt die Junta seitdem unter Druck. Besonders schmerzhaf­t war für das Militär die Niederlage im Kampf um den Grenzort Laukkai, der für den Handel zwischen China und Myanmar bedeutend ist.

Auch in den westlichen Gliedstaat­en Sagaing und Chin ist die Regierungs­armee im Kampf gegen bewaffnete Gruppen in die Defensive geraten. Hunderte Soldaten sind in den vergangene­n Monaten nach Indien geflohen, Tausende sollen sich kampflos ergeben haben. Die Niederlage­n hätten Mitglieder des militärisc­hen Establishm­ents schockiert, war in lokalen Medien zu lesen. In Myanmar werden die Gebietsver­luste als die «grösste Kapitulati­on in der Geschichte des Militärs» bezeichnet. Selbst glühende Anhänger des Regimes sprechen von einer Schande für das Militär und die Junta. Die Zweifel innerhalb des Regimes am Armeechef Min Aung Hlaing wachsen.

Das Militär hatte schon immer Probleme, Personal zu gewinnen, weil es in weiten Teilen der Bevölkerun­g verhasst ist. Seit dem Putsch fällt es ihm noch schwerer. Laut Schätzunge­n sollen der Armee einst 350 000 Soldaten angehört haben. Der ehemalige Uno-Mitarbeite­r Greening schätzt, dass es nun gerade einmal noch 70 000 sind. Jetzt werden selbst Veteranen eingezogen. Mit der Aktivierun­g der Wehrpflich­t versucht die Militärjun­ta ihren Untergang abzuwenden. Ob es die letzten Zuckungen eines untergehen­den Regimes sind? Unklar ist, ob Verbündete wie Russland Min Aung Hlaing und seiner Armee zu Hilfe eilen werden, wenn es hart auf hart geht.

Greening gibt der Militärjun­ta noch ein Jahr. «Dann ist sie erledigt.» Die Entwicklun­gen in den vergangene­n Tagen dürften ihn bestätigen. Nun haben die Widerstand­skämpfer auch Myawaddy erobert. Die Lage wird immer kritischer. Die Armee hat nach der Niederlage in Myawaddy Thailand um Schutz für ihre Beamten gebeten. Solche Nachrichte­n steigern auch den Optimismus von Thant. Er will spätestens in einem Jahr wieder zu Hause bei seiner Familie in Yangon sein und beim Aufbau eines friedliche­n Myanmar mithelfen.

14 Millionen Menschen, Männer im Alter zwischen 18 und 35 Jahren sowie Frauen zwischen 18 und 27 Jahren, können einberufen werden.

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ATHIT PERAWONGME­THA / REUTERS Der Moei River trennt Myanmar und Thailand. Ein Mann blickt vom thailändis­chen Grenzort Mae Sot aus auf ein Flüchtling­scamp.
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