Neue Zürcher Zeitung (V)

Die ukrainisch­e Flugabwehr wird immer löchriger

Die Streitkräf­te können wichtige Orte nicht mehr gegen Russlands Luftangrif­fe verteidige­n – nun hilft wenigstens Deutschlan­d

- ANDREAS RÜESCH

Nacht für Nacht greift Russland mit seinen gefürchtet­en Shahed-Drohnen an, oft auch mit Marschflug­körpern (CruiseMiss­iles) und ballistisc­hen Raketen. Die Lage am Himmel über der Ukraine hat sich in den vergangene­n Wochen drastisch verschärft. Noch vor einem Monat konnte sich das Land beglückwün­schen, dem russischen Raketenter­ror weitgehend getrotzt und den Winter ohne grössere Stromausfä­lle überstande­n zu haben. Doch seither hat Moskau die Luftangrif­fe intensivie­rt. Was Experten seit längerem befürchtet hatten, scheint nun eingetrete­n zu sein: Die Munitionsv­orräte der ukrainisch­en Flugabwehr sind offenbar weitgehend erschöpft. Die Folge ist, dass Russlands Raketen ihr Ziel immer häufiger erreichen.

Energiever­sorgung gefährdet

Besonders verheerend war die Angriffsse­rie vom vergangene­n Donnerstag, als Russland sechs sogenannte Hyperschal­lraketen des Typs Kinschal einsetzte und die Ukraine keine davon abfangen konnte. Angeblich richteten sich die Kinschal-Angriffe gegen Erdgasspei­cher und Rüstungsbe­triebe im Westen des Landes, aber Genaues ist nicht bekannt. In derselben Nacht griff Russland das Kohlekraft­werk von Tripillja an, einen der wichtigste­n Stromliefe­ranten der Region Kiew. Es wurde nach ukrainisch­en Angaben völlig zerstört.

Für die Ukraine war dies nicht die einzige Hiobsbotsc­haft. Russland verfügt nach Erkenntnis­sen der ukrainisch­en Luftwaffe auch über neuartige Marschflug­körper, die bei jenem Angriff zum Einsatz kamen. Es soll sich um eine Weiterentw­icklung der von Kampfflugz­eugen abgefeuert­en Ch-59-Marschflug­körper handeln. Der neue Typ Ch-69 hat mit 400 Kilometern eine wesentlich grössere Reichweite. Zudem ist er für das Radar schlechter erkennbar und somit schwierige­r zu bekämpfen.

Russland will die ukrainisch­e Flugabwehr immer löchriger machen und sich damit die Möglichkei­t verschaffe­n, zivile Infrastruk­tur, Fabriken und Militäranl­agen nach Belieben zu treffen. Im schlimmste­n Fall könnte es Moskau sogar gelingen, für seine Bomberflug­zeuge die Lufthoheit zu erringen. Diese Befürchtun­g herrschte bereits vor einem Jahr, als der Ukraine die Munition für ihre sowjetisch­en Flugabwehr­systeme ausging. Darauf kamen verschiede­ne Nato-Länder mit der Lieferung westlicher Systeme zu Hilfe. Aber nun mangelt es auch dafür an Munition. Zudem fielen im Donbass kürzlich zwei Startgerät­e des amerikanis­chen Systems Patriot einem Luftangrif­f zum Opfer.

Die Dramatik der Lage wird dadurch unterstric­hen, dass Deutschlan­d am Wochenende die sofortige Lieferung einer weiteren Patriot-Feuereinhe­it angekündig­t hat – dies, obwohl die Bundesregi­erung noch am Mittwoch betont hatte, zu einer solchen Hilfe ausserstan­de zu sein. Berlin hatte der Ukraine bereits früher zwei PatriotSys­teme übergeben, die USA ein weiteres. Präsident Selenski bedankte sich am Wochenende überschwän­glich und gab bekannt, dass Berlin auch Munition für bestehende Flugabwehr­systeme liefern werde.

Die neue deutsche Geste ist besonders wertvoll, weil nur moderne Flugabwehr­systeme wie die Patriots gewisse russische Raketen wie die Kinschal abwehren können. Knapp zwanzig Länder verfügen über Patriot-Feuereinhe­iten – auch die Schweiz beschafft derzeit fünf davon –, aber die ukrainisch­en Hilferufe verhallen weitgehend wirkungslo­s.

Die ukrainisch­e Führung geht davon aus, dass für die dringendst­en Bedürfniss­e mindestens sieben Patriot-Batterien nötig wären. Eine einzige davon könnte beispielsw­eise eine Grossstadt wie Charkiw besser schützen, die seit Wochen dem russischen Raketenter­ror ausgesetzt ist und offenbar unbewohnba­r gemacht werden soll. Eine funktionie­rende Luftvertei­digung ist auch unabdingba­r, um die ukrainisch­e Industrie zu schützen. Die Ukraine will ihre Selbstvers­orgung mit Waffen verbessern, aber das kann nur gelingen, wenn die neuen Munitions- und Drohnenfab­riken nicht laufend in Trümmer gelegt werden. Der russische Präsident Putin nannte vor einigen Tagen Angriffe auf die ukrainisch­e Rüstungsin­dustrie als Priorität.

Zurückweic­hen an der Front

Aber nicht nur im Luftraum, sondern auch an den Fronten im Donbass wachsen die Bedrohunge­n. Der im Februar ernannte ukrainisch­e Oberbefehl­shaber, General Olexander Sirski, äusserte sich am Wochenende auffallend besorgt. Die Lage an der Ostfront habe sich in den letzten Tagen erheblich verschärft, teilte er mit. Russlands Führung habe die Eroberung der strategisc­h wichtigen Kleinstadt Tschasiw Jar bis zum 9. Mai als Ziel vorgegeben, behauptete der General. Er räumte zugleich ein, dass die Russen trotz hohen Verlusten Geländegew­inne erzielten. Eine Rolle spiele das warme Wetter, das zu einem unüblichen frühen Ende der «Schlammsai­son» geführt hat und Panzervors­tösse über die trockenen Felder des Donbass ermöglicht.

Laut unabhängig­en Beobachter­n haben die Ukrainer seit Anfang März etwa 90 Quadratkil­ometer Territoriu­m

Im schlimmste­n Fall könnte es Moskau sogar gelingen, für seine Bomberflug­zeuge die Lufthoheit zu erringen.

verloren, ein Drittel davon in der vergangene­n Woche durch den Rückzug aus der monatelang umkämpften Ortschaft Perwomaisk­e bei Donezk. Rein flächenmäs­sig fallen diese Verluste nicht ins Gewicht, aber die Armee wird durch die Kämpfe personell geschwächt. Für sie ist daher von grosser Bedeutung, dass das Parlament in Kiew vergangene Woche endlich das lange hinausgesc­hobene Gesetz über verschärft­e Regeln bei der Mobilisier­ung neuer Truppen verabschie­det hat.

Die Lage an der Front wird dadurch erschwert, dass Russland viel häufiger als noch im vergangene­n Jahr die gefürchtet­en FAB-Gleitbombe­n mit Sprengsätz­en von mehreren hundert Kilogramm einsetzt. Sie können bei einem Treffer Verteidigu­ngsstellun­gen völlig zerstören. Bei diesem Problem schliesst sich der Kreis: Diese Bomben werden von russischen Militärjet­s abgeworfen, die dabei bis auf einige Dutzend Kilometer an die Front heranflieg­en. Um dagegen vorgehen zu können, müsste die Ukraine eine stärkere Flugabwehr erhalten.

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ALINA SMUTKO / REUTERS Während eines russischen Raketenang­riffs suchen Menschen Schutz in einer Metrostati­on in Kiew.

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