Und was, wenn der Herrscher plötzlich weg ist?
Die fünfte Amtszeit, das dritte Jahrzehnt als mächtigster Mann Russlands: So sieht die Zukunft von Wladimir Putin (71) aus. Man kann sagen: Seine politische Karriere hat das Stadium «Präsident auf Lebzeiten» erreicht.
Seine erneute Wahl offenbart jedoch eine unangenehme Tatsache, was die künftige politische Stabilität Russlands betriff t: Der Präsident und sein Umfeld haben keine sichtbaren Vorbereitungen für eine NachPutin-Ära getroffen. 2020 stimmten die russischen Wähler für Verfassungsänderungen, die es Putin ermöglichen würden, bis 2036 an der Macht zu bleiben. Was danach passiert, weiss niemand.
Der Kreml hat deutlich gemacht, dass er keine Alternativen zum System der Ein-MannHerrschaft am Horizont sieht. «Wenn wir davon ausgehen, dass der Präsident als Kandidat antritt, dann ist es offensichtlich, dass es in der gegenwärtigen Phase keinen wirklichen Wettbewerb um das Präsidentenamt geben kann», hatte
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow (56) gesagt und hinzugefügt, dass Putin «die absolute Unterstützung der Bevölkerung geniesst».
Laut einigen Kreml-Beobachtern wie CNN-Journalist Nathan Hodge hat Russland aber ein gröberes Problem: Das System, das in den vergangenen zwei Jahrzehnten unter Putins Herrschaft aufgebaut wurde, ist brüchig, gerontokratisch und anfällig für einen grossen Schock, wenn die Person an der Spitze wegfällt. Für den dienstältesten russischen Staatschef seit Sowjet-Diktator Josef Stalin (1878– 1953) mag das keine dringende Angelegenheit sein – sollte es aber.
Denn Putin kam einem Machtverlust schon gefährlich nahe: Im Juni 2023 sah er sich mit der grössten Bedrohung seiner Macht konfrontiert, als sein früherer Verbündeter Jewgeni Prigoschin (1961–2023) eine bewaffnete Rebellion anzettelte und seine Truppen aufforderte, nach Moskau zu marschieren und die russische Militärführung zu stürzen. Und wer weiss, was geschieht, wenn Russland den Ukraine-Krieg verlieren sollte? Hinzu kommen Gerüchte über seine schlechte Gesundheit. Was passiert also, wenn Putin plötzlich nicht mehr ist?
Es ist verlockend zu glauben, dass Russland seine diktatorischen Fesseln abschüttelt, die Beziehungen zum Westen normalisiert und den Weg der Demokratie einschlägt, wenn Putin von der Macht entfernt wird, zum Beispiel durch einen Palastputsch. Doch das ist eher unwahrscheinlich.
Die sicherste Garantie dafür, dass Russland keine demokratischen Reformen durchführen wird, ist die Macht seiner Sicherheits- und Geheimdienste. In den entscheidenden Momenten der sowjetischen und postsowjetischen Geschichte, inmitten von Putschen, Beinahe-Putschen, Reformen und Revolutionen, haben der KGB und seine Nachfolger stets als Königsmacher fungiert. Ihre Macht ist be
ständig geblieben. Es gibt wenig Grund zur Annahme, dass sie das nicht wieder tun werden. Aber was, wenn Putin stirbt?
Das Magazin «Foreign Policy» hat 2015 eine Analyse von 79 Diktatoren durchgeführt, die zwischen 1946 und 2014 im Amt gestorben sind. Auch diese zeigt, dass der Tod eines Diktators fast nie Demokratie einleitet. In der Regel wird das Regime nicht gestürzt, stattdessen besteht es in der überwiegenden Mehrheit (92 Prozent) der Fälle auch nach dem Tod des Autokraten fort.
Der Tod von Hugo Chávez in Venezuela 2013, Meles Zenawi in Äthiopien 2012 und Kim Jong Il in Nordkorea 2011 veranschaulicht diesen Trend. Verglichen mit anderen Formen des Führungswechsels in Autokratien – wie Putschen, Wahlen oder Amtszeitbeschränkungen –, die etwa in der Hälfte der Fälle zum Zusammenbruch des jeweiligen Regimes führten, ist der Tod eines Diktators bemerkenswert folgenlos.
Die «Washington Post» fand heraus: In 87 Prozent der Fälle, in denen ein Staatsoberhaupt im Amt starb, blieb das Regime oder die Gruppe, die an der Macht war und die Regeln für das Regieren bestimmte, im folgenden Jahr intakt. In 76 Prozent der Fälle war es auch fünf Jahre später noch an der Macht. Für Russland heisst das: Auch ohne Putin würde es wohl erst mal weitergehen wie bisher.