«Ich habe grosse Fortschritte gemacht»
Schon zu YB-Zeiten gibt es Stimmen, die sagen, Vincent Sierro habe das Zeug zum Nationalspieler. Doch sie sind nicht besonders laut. Die
Berner fordern eher Sandro Lauper. Oder Michel Aebischer. Nur Sierros Berater Michel Urscheler betont stets: «Vincent hat das Potenzial zum Nati-Spieler!» Und nun, im März 2024, kriegt Urscheler recht. Murat Yakin bietet Sierro erstmals auf.
Der Spieler selber erfährt es auf dem Ergometer. «Nach dem Training begab ich mich aufs Rad, um zu chillen. Nach fünf Minuten nahm ich das Handy hervor und stellte einen Anruf in Abwesenheit fest: Murat Yakin! Ich wusste gleich, dass es der Nati-Coach war, weil ich seine Nummer gespeichert habe.»
Natürlich macht es sofort klick, denn es gibt nicht viele andere Gründe dafür, dass Yakin den Walliser kurz vor Erlass des Aufgebots anruft. «Ich war total aufgeregt. Und die Spieler um mich herum waren neugierig und freuten sich mit mir.» Eine halbe Stunde später kommts zum Telefonat zwischen Yakin und Sierro.
Mit 28 also das erste Aufgebot. Überrascht? «Zumindest habe ich alles dafür getan. Ich habe versucht, so gut wie möglich zu sein. Verantwortung zu übernehmen. Dem Team zu helfen. Und ich habe grosse Fortschritte gemacht.»
Nichtsdestotrotz kommt das Aufgebot überraschend. Nicht primär, weil Sierro 28 ist, sondern wegen der riesigen Konkurrenz im zentralen Mittelfeld. Xhaka, Freuler, Zakaria, Aebischer, Sow, Jashari, Rieder. «Es gibt da viele Spieler mit extrem hoher Qualität. Deshalb war es ja so schwierig, nur schon mal dabei zu sein.»
Er sei ja schon einige Male nahe an einer Selektion gewesen. Die Pikettliste kennt den Namen Sierro bestens. «Aber es kommt halt nie nur auf dich drauf an. Die Umstände müssen stimmen.
Was die direkten Konkurrenten machen, ist wichtig.» Weshalb sich die Enttäuschung, immer übergangen worden zu sein, in Grenzen hielt. «Aber sie war da», sagt Sierro. Bei allem Verständnis für die Umstände.
Kommt hinzu, dass die Aufgebots-Chance in einer Top-fünf-Nation massiv höher ist als bei einem Schweizer Klub. Und Sierro ist bei Toulouse förmlich explodiert! Er ist zum Leistungsträger geworden, zum Leithammel, zur Identifikationsfigur, zum Torschützen (vier Meisterschaftstore im Jahr 2024!). Und zum Captain. Wie kam das? «Ich fühle mich in diesem Kader pudelwohl. Ich mag die Spielidee des Coaches und unser System. Hinten herausspielen. Den Ball zirkulieren lassen. Kombinationsfussball. Auch deshalb habe ich
Toulouse ausgewählt. Ich bin nicht zufällig hier gelandet. Die Philosophie musste stimmen.»
Wie aber kam es, dass Sierro Anfang Saison Captain wurde? «Meine Position ist prädestiniert dafür. Ich bin einer der Erfahrenen. Einer, der viel redet. Der die Mitspieler aufmuntert. Sie aber auch positioniert und platziert. Und ich denke: einer, der das Spiel auch versteht. Spielintelligenz ist eine meiner Stärken.» Und auch sonstige Intelligenz. Sierro hat im Fernstudium den Bachelor in Wirtschaft gemacht. Fast schon selbstverständlich, dass er viele Sprachen spricht. «Das hilft auch, wenn man sich mit allen verständigen kann.»
Doch trotz eines Sierro in Topform und einer starken Europa-League-Kampagne mit dem Sensationssieg gegen Liverpool, dem Weiterkommen und dem hauchdünnen SechzehntelfinalAus gegen Benfica Lissabon – in der heimischen Liga liegt der Fokus auf Klassenerhalt. «In der Vorrunde war die Mannschaft im Aufbau begriffen. Nun haben wir uns gefunden. Dynamik und Selbstvertrauen sind grösser geworden.» In der Tat: In der Jahrestabelle liegt Toulouse auf Platz sechs. Die Gesamtabrechnung ergibt aber nur Platz elf. «Aber wir kommen langsam aus der roten Zone», sagt Sierro.
Zurück zur Nati. Wie stehts um Sierros Euro-Chancen? Im Zirkel der Mittelfeldspieler sind Xhaka, Freuler und Zakaria gesetzt. Doch danach? Zuletzt war Aebischer die Nummer vier. Doch der Fribourger hat seinen Stammplatz in Bologna verloren. Von den letzten fünf Spielen hat er nur eines begonnen. Sierro kann auf diesen Platz schielen. «Dabei zu sein, ist Traum und Ziel zugleich. Ich will mehr. Auch wenn es schwierig werden wird. Es liegt nun an mir zu zeigen, wer ich bin in den Spielminuten, die ich hoffentlich erhalte.»
Die Chance besteht auf jeden Fall, dass der Siderser nach Deutschland mitreist.
«Ich bin einer, der viel redet, die Mitspieler aufmuntert.» Vincent Sierro, Toulouse-Captain