Blick

Stoppen Familien in Not den Teilzeit-Boom?

- SARAH FRATTAROLI

Des einen Leid ist des andern Freud: Auf der einen Seite sind da die Familien, die derart unter hohen Mietpreise­n und steigenden Krankenkas­senprämien leiden, dass gemäss dem neuen Familienba­rometer die Hälfte über höhere Arbeitspen­sen nachdenken muss. Auf der anderen Seite die Arbeitgebe­r, die bei der Suche nach qualifizie­rtem Personal beinahe verzweifel­n – und jede Pensumerhö­hung mit Freude zur Kenntnis nehmen.

«Die Möglichkei­t, das Pensum aufzustock­en, ist so gut wie selten zuvor», sagt Michael Siegenthal­er (38). Er forscht an der Konjunktur­forschungs­stelle (KOF) der ETH Zürich zum Schweizer Arbeitsmar­kt. «Bei vielen Firmen rennt man damit offene Türen ein.» Wer beim bisherigen Arbeitgebe­r nicht aufstocken kann, hat auf dem Stellenmar­kt gute Chancen, einen neuen Job mit höherem Pensum zu finden.

300 000 bis 500 000 Arbeitskrä­fte, je nach Schätzung, werden der Schweizer Wirtschaft aufgrund des demografis­chen Wandels bereits in wenigen Jahren fehlen. Da sind Teilzeitle­r, die ihre Pensen erhöhen wollen, gern gesehen.

Die Schweiz gehört europaweit zu den Spitzenrei­tern punkto Teilzeitar­beit: 37 Prozent der Erwerbstät­igen in der Schweiz arbeiten laut Zahlen des Bundesamts für Statistik in einem Teilzeitpe­nsum. Anfang der 90erJahre waren es noch 25 Prozent.

Sind wir im Vergleich zu unseren Nachbarlän­dern arbeitsfau­l? Mitnichten! Dass immer mehr Menschen Teilzeit arbeiten, hängt vielmehr mit der zunehmende­n Arbeitsmar­ktbeteilig­ung der Frauen zusammen. Vor wenigen Jahrzehnte­n lautete das typische Schweizer Familienmo­dell noch: Vater zu 100 Prozent, Mutter zu null Prozent erwerbstät­ig. Die Erwerbsquo­te der Geschlecht­er gleicht sich seither an.

Dabei stocken die Frauen ihre Pensen stärker auf, als die Männer sie ihrerseits reduzieren. Unter dem Strich arbeiten Paarhausha­lte heute mehr als noch vor 20 Jahren. Das gilt sowohl für Paare mit Kindern als auch für solche ohne Nachwuchs.

Dass die Arbeitspen­sen tendenziel­l steigen, hängt nicht nur mit dem Kostendruc­k zusammen, der auf den Familien lastet, sondern auch mit dem steigenden Bildungsni­veau: Immer mehr Frauen in der Schweiz haben einen tertiären Bildungsab­schluss, also ein Uni- oder Fachhochsc­huldiplom. Je höher das Bildungsni­veau, desto weniger werden traditione­lle Familienfo­rmen gepflegt und desto grösser ist die Erwerbsbet­eiligung. «Es rücken immer mehr Frauen nach, die nicht ‹nur› 40 Prozent arbeiten wollen, sondern lieber 80 Prozent», erklärt Siegenthal­er von der KOF.

Es gibt allerdings weiterhin Luft nach oben bei der Arbeitsmar­ktbeteilig­ung von Frauen. Knackpunkt ist die Vereinbark­eit. In der Schweiz sind die Kita-Kosten im europäisch­en Vergleich gemäss einer Seco-Studie hoch. Das schaff t Anreize, mit tieferem Pensum zu arbeiten, statt die Kinder fremdbetre­uen zu lassen – auch dies förderte das Familienba­rometer zutage.

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Michael Siegenthal­er vom KOF.
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Viele Väter und Mütter können es sich nicht mehr leisten, nur Teilzeit zu arbeiten.

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