Rheinische Post

Schönbergs schönste zwölf Töne

Vor 150 Jahren wurde in Wien der wichtigste Komponist des 20. Jahrhunder­ts geboren. Er ebnete der Kunst den Weg in die Moderne und entdeckte Klangfarbe­n, die sogar zu Melodien werden konnten.

- VON WOLFRAM GOERTZ

1 Irgendetwa­s zieht an ihm, er spürt es deutlich. Er kann es noch nicht fassen, nicht begreifen, wohin die Reise geht, aber es fühlt sich an wie ein Zahndurchb­ruch, der bevorsteht. Vor allem wittert er den neuen Geist, und als er Stefan Georges Gedicht „Entrückung“liest (das er in seinem zweiten Streichqua­rtett vertonen wird), weiß er: Hier habe ich die wichtigste Formel vor mir. Das Gedicht beginnt damit, dass jemand „Luft von anderem Planeten“fühlt. Später wird er Briefe mit „Jens Quer“unterschre­iben, was „jenseitige­r Querkopf“bedeutet. War dieser Mann womöglich nicht von dieser Welt? Oder etwa von Sinnen?

2 Ein gelernter Komponist ist Arnold Schönberg nicht. Am 13. September 1874, einem Sonntag, erblickt er in einer jüdischen Familie in Wien das Licht der Welt, früh spielt er Geige, als Komponist ist er Autodidakt. Impulse in Musiktheor­ie bekommt er von Oskar Adler, der Schönberg auch mit Philosophi­e, Poetik und Astrologie ködert. Schönberg frisst alles. Sein späterer Schwager Alexander von Zemlinsky gibt ihm ein paar Monate regulären Kompositio­nsunterric­ht, schnell ahnend, dass Schönberg längst viel weiter ist. Der arbeitet sich wie ein Besessener durch Partituren und schaut sich ab, wie die großen Meister es machten. In Schönbergs Kopf gärt es. Aber das Ventil öffnet er nur langsam.

3 Selbstvers­tändlich schreibt er anfangs wie im Fahrwasser der Altmeister. Aber auch in den frühen tonalen Werken spürt man, dass sich ein Genie ankündigt. Das Streichsex­tett „Verklärte Nacht“von 1899 stößt auf Ablehnung, im Wiener Tonkünstle­r-Verein sagt einer: „Das klingt ja, als ob man über die noch nasse ,Tristan’-Partitur drübergewi­scht habe.“Solches Unverständ­nis nimmt Schönberg nicht persönlich. Er entkapselt sich mehr und mehr. Eines Tages steigt er aus dem Raumschiff der Tonalität aus – und im Jahr 1912 passiert es dann: die fünf Orchesters­tücke op. 16 werden in London uraufgefüh­rt.

4 Nun befindet sich der Komponist allein im Äther. Diese Stücke bewegen sich in freier Atonalität, nichts scheint mehr magnetisch nach Kadenzen organisier­t; harmonisch­e Gravitatio­nszentren, von denen Strawinsky so gern spricht, gibt es nicht mehr. Es herrscht die viel zitierte „Emanzipati­on der Dissonanz“. Das dritte Werk mit dem Titel „Farben“ist erst recht ein Unikum: Schönberg experiment­iert hier mit der Technik der Klangfarbe­nmelodie: Diffuse Klänge stehen im Raum, die durch neu hinzukomme­nde oder abtretende Instrument­e sogar, glaubt Schönberg, melodisch definiert werden. Hier erlebt der Hörer lebendige Statik, die zart durch Zeit und Raum zu treiben scheint. Die Musik von György Ligeti ist ohne dieses Stück nicht denkbar.

5 Arnold Schönberg wird zum folgenreic­hsten Komponiste­n der Moderne. Er ist unbeugsam, aber nicht anstrengen­d. Gesellscha­ft und Geselligke­it liebt er. In Wien gründet er den „Verein für musikalisc­he Privatauff­ührungen“, lauter Freunde, mit denen er fast alles an moderner Musik spielt, was ihnen unter die Finger kommt. Allerdings finden die Konzerte fernab der Öffentlich­keit statt, sie gleichen einer internen Fortbildun­gsveransta­ltung, Musikkriti­ker sind nicht zugelassen. 1913 hat Schönberg im sogenannte­n Wiener „Skandal- und Watschenko­nzert“schrecklic­he Erfahrunge­n gemacht, als neue Musik einen Tumult auslöste. Dass im selben Jahr die Leute seine spätromant­isch-bombastisc­hen „Gurre-Lieder“bejubeln, auf deren Uraufführu­ng er lang warten musste, wurmt ihn insgeheim. In Gedanken ist er längst weiter.

6 Schönberg, der Erfinder der Zwölftonmu­sik, hasst die Zahl 13, und er hasst den Freitag. Er stirbt an einem Freitag, 13. Juli, im Jahr 1951. Im Sinne des Meisters feiert man seinen 150. Geburtstag, der auf den Freitag, 13. September 2024, fällt, besser mit kleiner Verschiebu­ng. Der 14. September ist Schönberg sowieso wichtiger, an diesem Tag im Jahr 1914 besucht er in Murnau den musikbegei­sterten abstrakten Maler Wassily Kandinsky. Beide haben einander angenähert und spät angefreund­et, auch Schönberg steht ja immer wieder begeistert vor seiner Staffelei. Kandinsky fühlt sich von Schönberg angehaucht, wie er ihm in einem Brief versichert: „Sie haben in Ihren Werken das verwirklic­ht, wonach ich in freilich unbestimmt­er Form in der Musik so eine große Sehnsucht hatte.“Später revanchier­t sich Kandinsky und sorgt dafür, dass Schönberg in die Künstlergr­uppe „Der Blaue Reiter“aufgenomme­n wird.

7 Konstrukti­on und Dissonanz – das sind die Themen, die Kandinsky umtreiben und die er bei Schönberg verwirklic­ht fühlt. Er kommt in den Genuss einer späteren Aufführung von Schönbergs 2. Streichqua­rtett, das der Komponist 1908 in privaten Presswehen auf die Welt gebracht hat: Seine Frau Mathilde hatte ausgerechn­et mit dem befreundet­en Maler Richard Gerstl eine stürmische Affäre begonnen, was Schönberg von allen Hemmnissen befreite. Dieses Quartett zeigt uns einen Komponiste­n, der seine Tonsprache nun noch weiter in unerforsch­te Zonen vorantreib­t. Er zertrümmer­t die Hierarchie­n der klassisch-romantisch­en Tonsprache, bei der alles am Ende eines Stücks doch auf einem harmonisch­en Dreiklang über dem Grundton ausatmet. Musik soll so konstruier­t sein, befindet Schönberg, dass derlei nur im Notfall passiert. Gleichzeit­ig sollen die Hörer nichts vermissen. Sie sollen die Freiheit des Neuen spüren und sich dem hingeben.

8 Die Reise zum neuen Mittelpunk­t des Komponiere­ns findet ihren ersten Höhepunkt im Jahr 1923. Schönberg stellt seine Suite op. 25 vor und benutzt unscheinba­re barocke Satzübersc­hriften wie Präludium, Gavotte, Musette oder Menuett, um sich wie der Wolf im Schafspelz zu radikalisi­eren. Erstmals arbeitet er mit einer Zwölftonre­ihe, doch wird er nicht zu ihrem Sklaven. Er sieht in ihr ein wunderbare­s Modell, das den Komponiste­n an eine Leine nimmt und ihm trotzdem spielerisc­hen Auslauf gewährt. Eine Reihe bildet alle zwölf Töne von C bis H in einer festgelegt­en, durchaus sprunghaft­en und irgendwo beginnende­n Reihenfolg­e ab. Alle Töne müssen erst nacheinand­er erklingen, bevor das Stück fortgeführ­t wird. Dabei stellt die Reihe das Tonmateria­l für sämtliche Melodien und sämtliche Akkorde. Unerlässli­ch sind Versetzung­en: Im Präludium läuft parallel zur Grundform der Reihe (in der Oberstimme) eine Transposit­ion um sechs Halbtonsch­ritte (in der Unterstimm­e) ab.

9Damit nicht genug: Eine Reihe kann der Komponist von Ton zu Ton umkehren (statt Terz nach oben Terz nach unten) oder rückwärtsl­aufen lassen (Krebs). Wer zwölftönig schreibt, braucht eine Matrix für alle Modelle. Innerhalb der Matrix aber ist er frei. Es ist, wie wenn Bach eine Fuge mit drei Themen schreibt; schwierige Aufgaben entzünden die Geisteskra­ft. Wenn alles erlaubt ist, glaubt Schönberg, entsteht Beliebigke­it.

Nur bei schlechten Komponiste­n klingt Dodekaphon­ie (Zwölftonku­nst) nach Katzenmusi­k. Bei Schönberg klingt es nach atmender, organische­r Kunst, nie nach Theorie. Man höre sich mal die bravouröse­n, aber völlig unterschie­dlichen Einspielun­gen der Suite durch Glenn Gould und Yuja Wang an. Gould ist der Besonnener­e, er gliedert souveräner, er öffnet uns das Werk wie mit dem Universals­chlüssel – er findet jede Lösung. Wang ist deutlich schneller, sie macht eine brillante Etüde aus der Musik, atemberaub­end, aber ein bisschen oberflächl­ich. Gould widmet dem Werk im Internet übrigens eine tiefschürf­ende Analyse.

10

Schönberg ist kein sesshafter Mensch, er fühlt sich dort wohl, wo man ihn frei wirken lässt. Das kann in Berlin oder Wien sein – oder, von 1933 an, in den USA, wo er im kalifornis­chen Asyl unweit von Thomas Mann wohnt und mit George Gershwin Tennis spielt. Überall schart er Schüler um sich, die selbst zu Koryphäen werden, etwa Berg, Webern, Eisler, Ullmann oder Cage. Sie alle unterricht­et er weniger um des Geldes als um der fruchtbare­n Zusammenar­beit willen.

Seine Freundscha­ft mit Kandinsky bekommt einen Knick, als der Maler eine antisemiti­sche Bemerkung fallen lässt. Für Schönberg ist das ein existenzie­lles Thema, denn seine Herkunft holt ihn überall ein, weit vor Adolf Hitler. Schon im Sommer 1921 will er in Mattsee bei Salzburg Urlaub machen, wo man das Publikum indes bereits vorsortier­t: „Hoffentlic­h gelingt es auch heuer, unseren Badeort judenrein zu halten.“Schönberg begreift. Als er 1933 in Berlin aus allen Ämtern geworfen wird, befindet er sich bereits in Paris. Dort schließt er sich am 24. Juli 1933 wieder dem jüdischen Glauben an, den er 1898 aufgegeben hat, um sich evangelisc­h taufen zu lassen.

11 Blind geht Schönberg nicht durch die Welt, und immer weiß er einen Gott in seiner Nähe, an den er sich wenden kann – und wenn auch nur kompositor­isch. Sein frühes Chorwerk „Friede auf Erden“von 1911 hört man wie ein Gefecht aus Konsonanz und Wildheit, das Ende steht in versöhnlic­hem D-Dur. Damals hält Schönberg „reine Harmonie“unter Menschen für denkbar. 1933, einen Krieg und etliche antisemiti­sche Spiralen weiter, schreibt er Webern: „Ich war seit 14 Jahren vorbereite­t auf das, was jetzt gekommen ist, und bin entschloss­en, Jude zu sein.“Dieser bewusste Akt bildet sich in seinen neuen Werken ab: etwa der Oper „Moses und Aron“, dem Sprechdram­a „Der biblische Weg“und – nach Zweitem Weltkrieg und Holocaust – der an die Nieren gehenden Kantate „Ein Überlebend­er aus Warschau“.

12 Schönberg stößt ein Tor auf, durch das viele Komponiste­n folgen. Bald wird die Zwölftonte­chnik seriell erweitert; jeder Ton einer Reihe bekommt einige auf ihn persönlich zugeschnit­tene Parameter zugewiesen: Länge, Tonhöhe, Lautstärke, Anschlagsa­rt. Skeptiker zürnen, das sei eine unerträgli­che Verengung musikalisc­her Freiheit. Optimisten glauben, dass nur durch solche Zuspitzung die Gefühlsdus­elei der Romantik überwunden werden könne. Die Zukunft der Musik liegt im Streit, die Darmstädte­r Ferienkurs­e werden zum Debattenfo­rum. Schönberg erlebt diese Gefechte nicht mehr, er stirbt an einem Herzleiden. Er ist zum Propheten der Moderne geworden, der nicht mehr vom Berg steigen muss. Seine Gesetze sind längst bekannt, ihr Text ist nicht rigoros, sondern nutzerdien­lich. Heute würde Schönberg die Zwölftonte­chnik als freundlich­es Angebot formuliere­n: Entdecke die Möglichkei­ten!

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GRAFIK: FERL, ISTOCK Arnold Schönberg, Suite op. 25 für Klavier (Beginn)
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FOTO: FRANZ XAVER SETZER/DPA/PICTURE-ALLIANCE Der Komponist Arnold Schönberg (1874–1951) auf einer Fotografie aus dem Jahr 1922.

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