Der Charme der Bücherschränke
Die öffentlichen Schränke gehören seit Jahren zum Stadtbild und begeistern die Bücherfreunde. Ein Besuch in Kaiserswerth.
Es herrscht reges Treiben auf dem Kaiserswerther Markt am Donnerstagnachmittag: Viele Menschen sind bei 22 Grad und Sonnenschein zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs, machen es sich in der Gastronomie oder auch auf den Bänken der Mittelinsel zwischen der Bücherei „Lesezeit“und dem Restaurant „Zum Einhorn“gemütlich. Hier steht der offene Bücherschrank für den Stadtteil. Sowohl Spaziergänger als auch Radler halten gezielt oder spontan am Schrank an, umrunden ihn, schauen neugierig hinein. Manche greifen nach Büchern, blättern kurz, entscheiden sich dann anders. Andere kommen mit Beuteln, stellen Bücher hinein und gehen direkt weiter. Wiederum andere nehmen sich gleich mehrere Bücher heraus und freuen sich über ihre Ausbeute.
So auch Marta aus Kaiserswerth. Die 52-Jährige hat gleich fünf Kinderbücher ergattert: davon drei Pferdebücher, ein Hexe-Lilli-Buch und ein Fantasiebuch. Alles für ihre zehnjährige Nichte, damit diese vor dem Einschlafen liest. „Sie soll sich hiervon Bücher aussuchen und von ihren welche aussortieren, sodass ich wieder einige hineinstellen kann. Wir machen das regelmäßig“, sagt Marta. Sie selbst sucht sich Frauenromane aus. Zum Wegwerfen sind ihre eigenen Bücher ihr zu schade. Deshalb sind für Marta die Bücherschränke etwas Wunderbares und sollten in jedem Viertel stehen. Im Sommer sei sie jede Woche am Kaiserswerther Bücherschrank und habe auch schon tolle Funde gemacht, beispielsweise ein Kinderlexikon, wie sie lächelnd erzählt. Diesmal entdeckte sie ein Sudoku-Rätsel-Buch, was sie aber erst am Nachmittag abholen wollte. „Das hat jetzt schon jemand mitgenommen. Ich war zu spät.“
In Düsseldorf stehen bislang 26 Bücherschränke. 2024 seien noch vier weitere und im kommenden Jahr einer geplant, darunter in Lohausen, Heerdt, in Garath vor dem SOS-Kinderdorf und am Dorotheenplatz, sagt Maren Jungclaus vom Literaturbüro NRW. Im Juni 2011 kam der erste Schrank ans Rheinufer. „Wir dachten erst, wir stellen in Düsseldorf nur einen Schrank auf. Deswegen sollte der Standort relativ zentral sein, wo viele Leute entlanggehen.“Mittlerweile gehören sie aber als „Stadtmöbel“zum Stadtbild. Das Schöne an den Schränken seien Zufallsfunde, denn oft finde man Altes oder schon Vergriffenes, sagt sie.
Nikolaus Einhorn steht mit seiner Frau am Kaiserswerther Bücherschrank und hat für sich zwei Schätze gefunden: Homers Ilias und Götter, Tote und Hetären. “Ich habe Altgriechisch und Latein gelernt. Das sind Texte, die mich interessieren, die ich aber schon in mehreren Übersetzungen zu Hause habe. Ich kann sie nicht stehen lassen und sammle sie“, sagt der 84-Jährige. Er komme alle paar Tage vorbei und hoffe tatsächlich, dass nichts für ihn im Bücherschrank ist, damit er nichts mitnimmt. Doch es gebe immer wieder einige Perlen. “Das ist Sammellust und Freude. Aber zu Hause sagen wir: Wohin damit?“Ihn interessieren besonders Fachliteratur zu Psychologie, Biologie und die klassische Literatur des 20. Jahrhunderts. „Hier gibt es auch nagelneue Bücher und oft Ungelesenes. Manche Bücher stehen wahrscheinlich auch monatelang hier“, sagt er. Nikolaus Einhorn wartet darauf, dass der Schrank leerer ist, damit er wieder etwas zurückstellen kann.
Auch ein weiterer Herr ist ein Büchersammler. Er fuhr mit seinem Rad gezielt auf den Bücherschrank zu und fand für sich zwei Exemplare. Wenn er mit seinem Rad unterwegs ist, legt er seine Route so, dass er an den Schränken vorbeikommt. “Ich fahre zweimal die Woche an circa sechs Bücherschränken vorbei“, sagt der 58-Jährige. „Ich finde sie düsseldorferisch gemacht, sie sehen optisch gut aus. Und es macht großen Spaß, denn sie sind eine wunderbare Unterhaltung.“Gleichzeitig müsse er sich aber auch zurücknehmen, denn wenn er den Platz hätte, würde er noch mehr Bücher einpacken. Er selbst sammelt nicht nur Bücher, sondern tauscht auch regelmäßig durch. Dadurch täten ihm die kleinen Buchhandlungen leid, denn so kaufe er weniger. Der Radfahrer sammelt gerne illustrierte Bücher der 1960erJahre. Auch Unterhaltungsliteratur der 1950er und 1960er findet er gut. Ein schöner Fund war für ihn die 17. Auflage 1935 „Vom Winde verweht“oder ein „ganz seltenes und vergessenes“Buch vom deutschen
Regisseur Ulrich Schamoni.
Maren Junglaus beschreibt die Bücherschränke als Treffpunkte von Menschen. Sie seien deshalb mehr als nur eine Tauschstelle. Auch passten die Bücher oft zu den jeweiligen Bezirken, wie beispielsweise in Oberkassel mit seinen vielen Kunstbüchern. Der Standort müsse gut überlegt sein, denn die Tauschstelle soll gut erreichbar sein und man soll dort gerne mit einem Buch sitzen. Gleichzeitig wäre es gut, wenn Menschen einen Blick auf die kleine Bibliothek haben, damit nichts passiert. Die Kosten eines einzelnen Schranks belaufen sich auf circa 9300 Euro, sagt Jungclaus. Finanziert werden sie von den Bezirksvertretungen komplett oder anteilig oder über generierte Spenden, aber auch Bürger tragen die Kosten mit. „Drei Schränke wurden sogar von Privatleuten komplett finanziert.“Bislang musste nur ein Schrank (Schillerplatz) wegen Vandalismusschäden abgebaut werden.
In der Mediathek der ARD gibt es eine Doku-Serie, die vom Punk erzählt, und wer nun denkt, oje, darüber wurde doch schon so viel gesagt, der sei ermahnt, denn das ist nun etwas Anderes, etwas Neues: Es geht um den Punk der zweiten Generation. Im Mittelpunkt von „Millennial Punk“stehen jene, die zwischen 1980 und 1999 geboren wurden. Persönlichkeiten also, die auf der Schwelle zwischen analogem und digitalem Zeitalter aufwuchsen. Wie interpretieren diese Menschen eine alte Jugendkultur? Warum fühlen sie sich von ihr angezogen? Und: Wie definieren sie Punk?
Der Clou der Reihe: Sie hat die Form einer Oral History, sie verzichtet auf kommentierende Stimmen aus dem Off und vertraut allein den Interviewten. 69 Angehörige der Szene kommen zu Wort, wobei „Szene“nicht pingelig und strikt abgegrenzt, sondern angenehm weit gefasst wird. Auch das ist eine Erkenntnis dieser vier Folgen zu je 45 Minuten: Genrebeschränkungen gibt es nicht mehr. Punk ist eine Haltung, die ausgreift in den Hip-Hop und offen ist für Einflüsse und Inspirationen aus Techno und Elektronik. Und: Durch die offenen Archive des Internets konnte man die Ramones und The Clash aufarbeiten und eigene Musik von daheim in die Welt bringen, Vergangenheit und Gegenwart verbinden.
Diana Ringelsiep, Felix Bundschuh, Nico Hamm und Flo Wildemann haben über dreieinhalb Jahre hinweg rund 100 Stunden Material gesammelt. Punk sei vorbei, habe man ihnen immer gesagt, erzählt Wildemann bei der Premiere der Serie im Düsseldorfer Savoy-Theater. Im Publikum sitzen unter anderem Mitglieder der Toten Hosen und der Broilers, die in den einzelnen Episoden stark vertreten sind. Die Toten
Hosen haben eine Vorbildfunktion für die neue Generation von Punk – das wird vor allem ab der zweiten Episode der Dokumentation deutlich, wenn es um politisches Engagement geht. Da sieht man das Künstlerpaar Birgit und Horst Lohmeyer, das in Jamel in Mecklenburg-Vorpommern inmitten einer rechtsextremen Gemeinschaft aufrecht bleibt. Campino und Co. unterstützen sie, berühmt ist das Festival mit dem Namen „Jamel rockt den Förster“, bei dem Bands wie Die Ärzte auftreten, ihre Solidarität erklären und sich für Demokratie und Toleranz einsetzen.
„Millennial Punk“versteht sich zu 50 Prozent als Generationenporträt und zu 50 Prozent als Punkrock-Doku, heißt es bei der Premiere. Die erste Folge ist noch ziemlich wehmütig: Tamagotchi, Jamba-Sparabo, Arabella Kiesbauer, Furby und Britney Spears. Das hätte man ruhig straffen und einordnen können, da erzählt die Band Rogers etwa, sie habe auch mal Ecstasy ausprobiert, „das war gut“. Allmählich aber spielt die Serie ihre Stärken aus. Da lernt man Dariush Beigui kennen, der Tausende Flüchtlinge aus dem Meer gerettet hat. Da hört man von Broilers-Sänger Sammy Amara, wie ihm einst in Düsseldorf-Garath auffiel, dass viele Menschen ihn nicht so wahrnehmen, wie er sich selbst wahrnahm, sondern: als Ausländerkind.
Punk wurde spätestens nach dem 11. September zu einer enorm gegenwärtigen Bewegung. Eindrucksvoll sind die persönlichen Erinnerungen an das Datum: „Ein ganz entscheidender Tag für immer“, sagte Joshi von der Band ZSK. „Wir leben jetzt in einer anderen Welt“, sagt Fat Mike von NOFX. „Die Sippenhaft gegen südländisch aussehende Menschen nahm zu“, sagt Sammy Amara. Und bei Viva war erst mal Sendepause.
Über Sampler wie „Rock Against Bush“versicherte man sich des Zusammenhalts. „Die coolen Punks sind die, die was machen“, heißt es. Und mit Blick auf aktuelle Konflikte stellen die Rogers die einfache und traurige Frage: „Warum müssen Tausende sterben, wenn vier sich streiten?“
Das Verdienst dieser liebevollen Dokumentation ist erst mal dieses: Man schließt die, die da reden, in ihrer Unterschiedlichkeit, Besonderheit und Unverbrüchlichkeit ins Herz. Man hört ihnen gerne zu. Und: Man erfährt, wie gemeinsame Ziele aus einer Generation Verbündete machen. Musik ist dabei buchstäblich Medium: Ausdruck einer Haltung, Mittel der Kommunikation. Die zweite Generation ist popkulturell informiert. Wie rebelliert man, wenn bei Viva Enie van de Meiklokjes die Loveparade ganz selbstverständlich mit pink gefärbtem Haar moderiert? Funktionierte Punk früher stark über das Mittel der Abgrenzung, durch das Dagegensein, wirkt es inzwischen so, als sei Punk stärker durch ein Dafürsein charakterisiert. Die Parole „No Future“wird umgekehrt, Punk glaubt offenbar wieder an die Zukunft und kämpft dafür.
Und irgendwie hat man den Eindruck, dass alte Helden wie Die Toten Hosen und Die Ärzte ebenfalls beeindruckt sind von denen, die die Tradition in die Gegenwart tragen. Dass sie sich freuen, als Bezugspunkt zu gelten, als Türöffner und Kompass. Und wie sie gleichzeitig davor geschützt werden, allzu nostalgisch zu werden.
Jedenfalls: Punk’s not dead, echt nicht.