Bloß nicht über den Brexit reden
ANALYSE Im britischen Wahlkampf ist der qualvolle Austritt aus der EU kein Thema mehr – zu groß ist der Verdruss, zu massiv das Trauma. Und wer in Deutschland den „Dexit“will, sollte auf die desolate Bilanz im Königreich schauen.
Das B-Wort scheint tabu. Über den Brexit will im Vereinigten Königreich keiner mehr reden. Das Land wird am 4. Juli ein neues Parlament wählen, aber der Brexit spielt im Wahlkampf nicht die geringste Rolle. Beide großen Parteien, die Konservativen ebenso wie Labour, vermeiden, das Wort auch nur in den Mund zu nehmen. Selbst die Liberaldemokraten, die sicher nicht die Gewinner der Wahl sein werden, versuchen nur zaghaft, mit proeuropäischer Rhetorik zu punkten. Die Briten wollen nichts mehr vom Streit um den EU-Austritt hören. Sie sind zu traumatisiert von den Brexit-Wirren der Jahre 2016 bis 2019, als dass sie dieses Fass noch einmal aufmachen wollen.
Das ist kein Wunder, wenn der Brexit hauptsächlich mit negativen Nachrichten verbunden wird. Anfang des Jahres, auf den Tag genau vier Jahre nach dem offiziellen Austritt, führte die britische Regierung neue Warenkontrollen ein. Für den Import von Fleisch-, Milch- und Pflanzenprodukten aus der EU wurden Gesundheitszertifikate notwendig, die von einem Veterinär unterzeichnet werden müssen. Damit wurde eine neue Handelshürde aufgerichtet. Ende April trat eine zweite Stufe mit Stichproben und Lkw-Kontrollen in Kraft.
Nach Schätzungen der britischen Regierung dürften die Maßnahmen Kosten für den Handel von 330 Millionen Pfund jährlich (knapp 390 Millionen Euro) und einen Anstieg der Inflation um 0,2 Prozentpunkte verursachen. Eine Studie von Allianz Trade sprach von Kosten von zwei Milliarden Pfund. Es ist ein Schnitt ins eigene Fleisch, aber der Brexit verlangt es. Seit Anfang 2021, als die Übergangsphase endete, hatten es die Briten aufgrund der Störung für den Warenverkehr fünfmal vermieden, diese Kontrollen einzuführen, die freilich von der EU in der Gegenrichtung sofort verfügt wurden. Jetzt wurden sie nötig, so London, um die nationale Biosicherheit zu schützen und faire Rahmenbedingungen für britische Exporteure zu schaffen.
Wenn eine AfD-Politikerin wie Alice Weidel vom „Dexit“schwärmt, dem deutschen EU-Austritt, sollte sie sich das britische Beispiel anschauen. Genutzt hat der Brexit dem Land wenig, geschadet hat er ihm dagegen sehr. Die Bilanz sieht nicht gut aus: vor allem weniger Wachstum und weniger Investitionen. Das Office for Budget Responsibility schätzt, dass die Einbußen für das Bruttoinlandsprodukt langfristig vier Prozent betragen. Eine Studie des Instituts Cambridge Econometrics bezifferte die bisherigen Kosten des Brexits für die Volkswirtschaft auf 140 Milliarden Pfund, umgerechnet 164 Milliarden Euro. Dazu kommt, dass es mit dem Wegfall der Freizügigkeit neue Beschränkungen für Briten gibt, wenn sie in die EU reisen, dort arbeiten oder studieren wollen. Musiker-Tourneen wurden ebenso wie der Schüleraustausch massiv erschwert. Aber immerhin haben die Brexit-Fans jetzt einen Pass in der ursprünglichen Farbe Dunkelblau, wenn sie sich in der Schlange bei der EU-Einreise anstellen müssen.
Allzuviele von diesen Brexit-Fans gibt es aber gar nicht mehr. Umfragen zeigen, dass nur noch 31 Prozent der Briten die Entscheidung für richtig halten. Bei den Hardlinern ist es wie beim Sozialismus: Die Idee ist gut, meinen sie, aber die Umsetzung nicht. Für sie war die nationale Souveränität sowieso immer wichtiger als das Bruttoinlandsprodukt. Auch hatten sie gehofft, dass mit dem Versprechen von Boris Johnson, „die Kontrolle zurückzugewinnen“, verbunden war, dass die Einwanderung ins Königreich stark zurückgehen würde. Das Gegenteil war der Fall: Nach dem Brexodus von Hunderttausenden Europäern herrschte ein Mangel an Arbeitskräften, sei es im Gesundheitssektor oder in der Gastronomie, und die Regierung setzte auf massenhafte Einwanderung, um die Wirtschaft zu stützen. Im Jahr 2022 erreichte die Nettozuwanderung die Rekordzahl von 745.000 Menschen. Kein Wunder, dass die Brexit-Befürworter enttäuscht sind.
Nach dem jahrelangen Streit um den Brexit wollen die Menschen im Königreich davon nichts mehr hören. Themen wie die Lebenshaltungskostenkrise oder die Inflation sind den Leuten wichtiger, wie das Meinungsforschungsinstitut Ipsos herausfand, als Europa oder der EUAustritt. Das halten gerade einmal fünf Prozent der Briten noch für relevant. Und das ist auch verständlich. Denn so schlecht es auch gelaufen sein mag mit dem Brexit, so wenig ist an der misslichen Lage zu ändern.
Im Grunde wurde das Thema schon mit der letzten Wahl beerdigt. 2019 gewannen die Konservativen unter Boris Johnson mit dem Slogan „Den Brexit liefern“. Labour fuhr das schlechteste Ergebnis seit 1935 ein. Der neue Parteichef Keir Starmer zog die Konsequenzen und verpflichtete Labour auf einen Kurs, der den Brexit nicht rückgängig, sondern erfolgreich machen soll. Eine Rückkehr des Königreichs in die Zollunion oder den Binnenmarkt schloss er aus. Das bedeutet, dass Labour, sollte es wie erwartet die Wahl gewinnen, kein Mandat hat, um den Brexit in seiner jetzigen harten Form rückgängig zu machen. Allenfalls sind vorsichtige Annäherungsversuche wie ein Veterinärsabkommen oder dergleichen zu erwarten.
Erst wenn Labour in einem zukünftigen Wahlprogramm eine proeuropäische Strategie verspricht (und damit gewinnt!), könnte sich die Situation ändern. Soll heißen, frühestens mittelfristig, in zehn Jahren etwa, würde eine Labour-Regierung es vielleicht wagen, noch einmal die Frage zu stellen: Draußen oder drinnen? Bis dahin muss man mit den Handelshürden und all den anderen Malaisen weiterleben.
Themen wie die Inflation sind den Leuten wichtiger
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