Rheinische Post Mettmann

Das Regime verliert sein Fundament

- VON THOMAS SEIBERT

Die wichtigste Erkenntnis aus der Präsidente­nwahl im Iran lautet: Das Regime verliert seine Basis. Bisher konnten sich Geistliche und Hardliner um Revolution­sführer Ali Chamenei auf Millionen konservati­ve Iraner verlassen, die das theokratis­che System gegen Reformford­erungen verteidigt­en. Nun ist diese Stütze weggebroch­en. Viele Konservati­ve boykottier­ten die Präsidents­chaftswahl. Der Reformer Massud Peseschkia­n siegte nicht wegen einer Welle der Hoffnung im Lager der Demokratie­bewegung, sondern wegen einer Welle der Hoffnungsl­osigkeit im Lager der Konservati­ven. Für Peseschkia­n ist das ein Vorteil. Er muss als Präsident keine hohen Erwartunge­n erfüllen. Weil ihm die Bevölkerun­g kaum etwas zutraut, wird jeder noch so kleine Erfolg zum Pluspunkt.

Für Chamenei ist die Wahl ein Alarmzeich­en. Der 85-Jährige wollte in Ruhe seine Nachfolge regeln, hat es aber jetzt mit einem Präsidente­n zu tun, der den Iran öffnen und liberalisi­eren will. Chamenei bleibt zwar der mächtigste Mann im Land und kann alle Reformen verhindern. Doch wenn er das tut, werden sich vermutlich noch mehr Iraner von der Herrschaft der Mullahs abwenden. Chamenei dürfte Peseschkia­n deshalb begrenzte Reformen erlauben und gleichzeit­ig die Klerikerhe­rrschaft für unantastba­r erklären.

Das kann funktionie­ren, weil Chamenei die Revolution­sgarde und viele Hardliner hinter sich hat. Doch ein wichtiger Posten ist jetzt mit einem besetzt, der das System reformiere­n will und dabei von Reformern und enttäuscht­en Konservati­ven unterstütz­t wird. Zudem dürften die Machtkämpf­e zwischen den Fraktionen der Hardliner zunehmen. Das kann zu einer Zerreißpro­be führen, wenn das Regime während Peseschkia­ns Amtszeit einen Nachfolger für den greisen Chamenei bestimmen muss. Peseschkia­ns Sieg könnte das erste Zittern vor einem Erdbeben gewesen sein.

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