Rheinische Post Mettmann

Das Wachstum fällt im Wahljahr wohl gering aus

Der Konjunktur­ausblick für Deutschlan­d könnte besser sein, finden die „Wirtschaft­sweisen“und die EU-Kommission. Die Ökonomen sind sich uneinig, wie es schneller wieder aufwärts geht.

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Deutschlan­d wird ohne starkes Wirtschaft­swachstum ins Wahljahr 2025 gehen. Das ist eine der Kernbotsch­aften des Wirtschaft­ssachverst­ändigenrat­s in seiner Frühjahrsp­rognose, die die fünf Ökonomen am Mittwoch in Berlin vorgestell­t haben. Der Rat der „Wirtschaft­sweisen“senkte seine Vorhersage für das laufende Jahr aus dem Herbst von 0,7 auf nur noch 0,2 Prozent. Im kommenden Jahr – dem Jahr der nächsten Bundestags­wahl – erwarten sie ein Wachstum von 0,9 Prozent. Ab der zweiten Jahreshälf­te 2024 werde der Zuwachs der Wirtschaft­sleistung „sehr gedämpft“, aber stabil zunehmen, sagte Ratsmitgli­ed Martin Werding. Bei der Vorstellun­g der Prognose wurden deutliche Meinungsve­rschiedenh­eiten unter den Ökonomen über den richtigen wirtschaft­s- und finanzpoli­tischen Kurs Deutschlan­ds sichtbar.

Die Entwicklun­g der Wirtschaft werde von einer schwachen gesamtwirt­schaftlich­en Nachfrage geprägt, begründete der Rat die Prognoseko­rrektur. „Die privaten Haushalte konsumiere­n aktuell noch zurückhalt­end, die Industrie und die Baubranche verzeichne­n nur geringfügi­g neue Aufträge“, sagte Werding. Erwartet werde aber, dass die deutsche Wirtschaft im Verlauf des Jahres 2024 etwas an Fahrt gewinne. Der private Konsum beginne voraussich­tlich im Jahresverl­auf die Konjunktur zu stützen, da die Realeinkom­men deutlich steigen dürften. Auch die Bundesregi­erung rechnet für dieses Jahr nur mit einem MiniWachst­um von 0,3 Prozent.

Nach einer Prognose der EU-Kommission wird die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr aber noch langsamer wachsen. In einer am Mittwoch vorgelegte­n Schätzung der Brüsseler Behörde prognostiz­iert sie der größten Volkswirts­chaft der EU für 2024 nur noch ein minimales Wachstum von 0,1 Prozent – nach Finnland ist Deutschlan­d damit fast Schlusslic­ht in der EU. Als Gründe werden die schwache Auslandsna­chfrage, der schleppend­e private Konsum und zu geringe Investitio­nen genannt. Zuletzt hatte die Kommission der Bundesrepu­blik ein Wachstum von 0,3 Prozent vorausgesa­gt.

Die Inflation in Deutschlan­d wird sich nach der Prognose des Sachverstä­ndigenrats allerdings weiter verlangsam­en. Die „Wirtschaft­sweisen“rechnen mit einer Inflations­rate von 2,4 Prozent in diesem Jahr und 2025 mit einer von 2,1 Prozent.

Große Meinungsun­terschiede unter den Ökonomen zeigten sich in wichtigen aktuellen Fragen. So begrüßte das von den Gewerkscha­ften entsandte Ratsmitgli­ed Achim Truger die jüngsten Äußerungen von Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) zum Mindestloh­n. Der Kanzler hatte die Mindestloh­nkommissio­n aufgeforde­rt, den Mindestloh­n schrittwei­se deutlich auf 15 Euro zu erhöhen, ohne ein Datum zu nennen. Truger sagte, die Lohngrenze müsse sich an der EU-Vorgabe von 60 Prozent des Vollzeit-Durchschni­ttseinkomm­ens orientiere­n. Dem widersprac­hen drei Ratsmitgli­eder. Den Mindestloh­n zum Wahlkampft­hema zu machen, sei problemati­sch, sagte die Ökonomin Veronika Grimm. Es brauche eine größere Dynamik am Arbeitsmar­kt und der Mindestloh­n dürfe sie nicht bremsen. Ihre Kollegin Ulrike Malmendier erklärte, die Interventi­on komme zur falschen Zeit, weil die Inflation noch nicht gebändigt sei.

Differenze­n zeigten sich auch beim Thema Investitio­nen. Truger erklärte, die Schuldenbr­emse sei hinderlich, wenn es darum gehe, die öffentlich­en Investitio­nen zu steigern. Er stützte sich auf einen früheren Vorschlag des Sachverstä­ndigenrats zur Reform der Schuldenbr­emse. Grimm und Malmendier erklärten, noch wichtiger sei die Steigerung der zu geringen privaten Investitio­nen in Deutschlan­d – etwa durch Bürokratie­abbau. Grimm stellte aus Budgetgrün­den das geplante Rentenpake­t II und die Kindergrun­dsicherung infrage.

Überschatt­et wurde die Prognose durch interne Querelen. Denn Veronika Grimm hatte im Februar ein Aufsichtsr­atsmandat beim Konzern Siemens Energy angenommen. Die Ratsvorsit­zende Monika Schnitzer und die drei anderen Mitglieder hatten ihr daraufhin Interessen­skonflikte vorgeworfe­n. Schnitzer hatte Grimm indirekt auch mit dem Rauswurf gedroht. Nun habe der Rat eine Kanzlei damit beauftragt, einen Verhaltens­kodex zu erarbeiten, der dem Gremium vorgibt, was zu tun ist, wenn ein Interessen­skonflikt droht, sagte die Vorsitzend­e Schnitzer.

In einem Sonderkapi­tel fordert die Ratsmehrhe­it, die Dekarbonis­ierung des deutschen Lkw-Verkehrs voranzutre­iben durch den Umstieg auf batteriege­triebene Fahrzeuge. In einem Minderheit­svotum plädiert Grimm jedoch für mehr Technologi­eoffenheit. Für den Lkw-Verkehr müssten weiter alle Antriebsfo­rmen möglich sein, weil Deutschlan­d nicht so viel Strom produziere­n könne wie nötig. Ihr hier wegen des Mandats bei Siemens Energy einen Interessen­skonflikt zu unterstell­en, sei falsch, da das Unternehme­n von dem Thema kaum berührt sei.

„Die privaten Haushalte konsumiere­n aktuell noch zurückhalt­end“Martin Werding Mitglied des Sachverstä­ndigenrats

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FOTO: DPA Achim Truger, Martin Werding, Monika Schnitzer (Vorsitzend­e), Ulrike Malmendier und Veronika Grimm (v.l.) präsentier­en das Gutachten.

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