Wer tut so was?
ANALYSE Angreifer gehen auf Menschen los, die Wahlplakate aufhängen, auf Politiker, auf Rettungskräfte. Die „Verrohung der Gesellschaft“wird oft als Grund genannt. Die aber könnte wiederum nur ein Symptom sein.
Vor wenigen Jahren noch schien es abwegig, dass Freiwillige, die eine demokratische Wahl vorbereiten, oder Sanitäter, die anderen zu Hilfe eilen, gefährdet sein könnten. Dass sie verbalen Attacken ausgesetzt sein könnten und immer häufiger auch körperlicher Gewalt – mit massiven Folgen. Wer tut so was?, fragt sich ein Teil der Bevölkerung, und es ist die Mehrheit. Doch es gibt eben auch einen anderen Teil, der mit den Achseln zuckt, wenn es gegen vermeintliche Autoritätspersonen oder Vertreter von Staat und Demokratie geht. Und es gibt die, die zuschlagen.
Wenn es nun an die Ursachen geht, ist oft zu hören, die „gesellschaftliche Verrohung“sei schuld. Das kann viel bedeuten. Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache hat sich empirisch mit dem Vorkommen des Begriffs beschäftigt: Demnach taucht die Verrohung auf, wenn zunehmende Brutalität, Gewalttätigkeit und Rücksichtslosigkeit gemeint sind. Außerdem, wenn es um den Niedergang gesellschaftlicher Werte geht, um zunehmende geistige und sittliche Verwahrlosung, Derbheit, Unkultiviertheit. Um das Abstumpfen von Menschen gegenüber Gewalt.
Wer die Attacken etwa jüngst auf Helfer im Europawahlkampf auf Verrohung zurückführt, erklärt sie also zum Symptom für eine bestimmte Art von Enthemmung. Für den Verlust der basalen Übereinkunft, einander nicht wehzutun. Anscheinend ist das Minimalziel des zivilen Miteinanders nicht mehr selbstverständlich. Streiten ja, zuschlagen nein. Gewöhnlich lernt man das im Kindergartenalter, und danach sollte die Lektion sitzen. Doch die aktuellen Fälle zeigen in ihrer Häufung, dass Menschen zurückfallen können hinter diese elementarste Konvention. Gerade
die Angriffe auf Helfer, die Plakate aufhängen, haben etwas Archaisches: Junge Männer ziehen los, um ihr „Revier“zu markieren. Oder vielmehr, um Symbole der Demokratie wie Wahlplakate mit Gewalt gegen Demokratie-Unterstützer aus ihrem „Revier“zu entfernen. Sie nehmen sich das heraus, weil sie glauben, dass die Zeit gekommen ist. Diese brutale Kaltschnäuzigkeit, verbunden mit dem aufgepumpten Selbstbewusstsein, man sei zu solchen Aktionen quasi berechtigt, macht die Taten so erschreckend. Dafür scheint Verrohung ein taugliches Etikett.
Neben der gesunkenen Hemmschwelle für Gewalt geht es bei der Verrohungsthese auch um die Abkehr von Werten, die lange selbstverständlich schienen. Die Übereinkunft etwa, dass die Demokratie, bei allen Schwächen, die beste aller Formen des Zusammenlebens darstellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt das als Markenkern der westlichen Welt. Und zu der wollte man gehören. Doch die alte Ordnung löst sich auf, neue Mächte gewinnen schnell an Einfluss. In einer multipolaren Weltordnung sortieren sich auch Wertvorstellungen neu. Und was gewiss schien, ist es nicht mehr.
Wladimir Putin als einen starken Mann zu bewundern, die autoritäre Schlagkraft Chinas zu loben oder Autokraten wie Donald Trump für die Macher der Zukunft zu halten – solche Sichtweisen werden auch in Deutschland vertreten. Das auszuhalten, gehört zur Meinungsfreiheit. In manchen digitalen Echokammern sind sie aber ausschließlich zu hören – und verstärken sich. Verrohung ist also nicht nur Rückfall in archaisches Verhalten, es geht auch um neue Orte der „sittlichen Derbheit“, in denen mental vorbereitet wird, was sich auf der Straße ereignet.
Das Internet funktioniert bekanntlich oft als Ressentimentverstärker, als Ort für gezielte Aufwiegelung und
Viele empfinden die Gegenwart als erschöpfend, die Ressourcen werden knapper