Kräutergärten und wilde Schweine
Singapur ist ein Shopping Paradies, hat ein bisschen Indien, viel China, ein wenig muslimische und arabische Welt zu bieten. Doch abseits dieser Konsum- und Unterhaltungsindustrie gibt es noch vieles andere zu entdecken.
Es ist schwül und heiß, 30 Grad schon um 10 Uhr morgens. Die Luftfeuchtigkeit liegt bei heftigen 90 Prozent und macht uns schwer zu schaffen. Ein Wald aus Hochhäusern, denken wir, als es in den Stadtteil Queenstown geht. „Edible Garden City“(EGC) steht auf dem runden Schild am Eingang. Eine unwirkliche Idylle. Das Grau der Stadtarchitektur wird durch das satte Grün einer Gärtnerei verdrängt – mit Kräutern, Gewürzen und Gemüseanbau. Ländliches Flair inmitten der Mega-City.
Hier, in der Jalan Penjara Street, auf Deutsch: Gefängnisstraße, liegt die Zentrale der Organisation. Gepachtetes staatliches Land, das den Betreibern der Farm von der Regierung überlassen wurde. Sarah Rodriguez heißt uns und die kleine Besucherschar willkommen. Während sie über das Gelände führt, drücken freiwillige Helfer Setzlinge in kleine Förmchen, tragen Sonnenhüte aus Stroh und erdverschmierte Gummistiefel. Ein junger Mann ist gerade zum Einkaufen gekommen; ein Mitarbeiter erklärt ihm, was es mit Borretsch auf sich hat. Die Blätter eignen sich als Zutat für Salate und Suppen und haben einen frischen, leicht salzigen Geschmack.
„2019 hatte die Regierung das sogenannte 30-zu-30-Ziel verkündet. Das bedeutet, dass Singapur bis 2030 aus eigenen Mitteln 30 Prozent des Bedarfs an Lebensmitteln decken will.“Derzeit werde nur ein Prozent des Inselstaates landwirtschaftlich genutzt, sagt Sarah Rodriguez. 90 Prozent aller Lebensmittel würden importiert: Rindfleisch aus Australien, Eier aus Neuseeland, Gemüse aus Malaysia, Indonesien, China und Europa.
Die Covid-19-Pandemie habe Singapur gezeigt, wie verletzlich das Land sei. Hamsterkäufe und Grenzschließungen hatten für Engpässe gesorgt und einen Bruch der Lieferketten. Wir waren schockiert über die leeren Supermarktregale, so die Mitarbeiterin von Edible Garden City: „Wenn man heute in einen Supermarkt geht, dann wissen die Verbraucher: Ein roter Aufkleber auf der Gemüsetüte bedeutet, dieses Gemüse stammt aus regionalem Anbau. So kann man bewusst lokale Produzenten unterstützen, statt etwas zu kaufen, das über lange Transportwege importiert wurde.“
Eine der treibenden Kräfte hinter der Urban-Gardening-Bewegung in Singapur sind die sogenannten „Community Gardens“. Diese Gärten werden von einzelnen Menschen, Nachbarschaftsinitiativen und Nicht-Regierungsorganisationen betrieben. Allen ist gemeinsam, das sie Gemüse anbauen, Früchte und Kräuter – manchmal auf engstem Raum. Hochhausdächer werden begrünt, Nutzgärten in Innenhöfen angelegt, in denen sich die Nachbarn der Wohnblocks nicht nur zur Salaternte treffen, das Ziehen von Tomaten auf Balkonen – all das wird vom Staat ausdrücklich begrüßt. Laut Angaben des National Parks Board Singapurs gibt es derzeit mehr als 1000 Community Gardens im ganzen Land.
Edible Garden City wurde 2012 von Bjorn Low gegründet, einem passionierten Landwirt und Gärtner aus Singapur. Seine Idee: das Bewusstsein für Ernährung, Nachhaltigkeit und Umweltschutz zu schärfen. Low begann, ungenutzte Flächen in landwirtschaftliche Gärten umzuwandeln. Es ging darum, grüne Oasen inmitten des Häuserwaldes zu schaffen, um Lebensmittel zu produzieren. Gleichzeitig sollten die Gärten auch soziale Treffpunkte sein und das Bewusstsein für Regionalität und Saisonalität der Nahrungsmittel zu sensibilisieren, um so eine nachhaltige Lebensmittelproduktion fördern. Gleichzeitig verzichtet EGC darauf, Pestizide oder Chemikalien einzusetzen. Das brachte Low 2018 den Titel Singapurer des Jahres ein. Auch Touristen antizipieren an den Produkten, die an Restaurants geliefert und verkauft werden. Und man kann auch an Führungen teilnehmen, um Urban Farming hautnah zu erleben.
Auf dem Gelände von EGC fallen uns riesige schwarze Säcke auf, die mit Erde und Pflanzen
gefüllt sind und als mobile Miniaturäcker auf Asphaltflächen genutzt werden. Gleich daneben geschlossene Käfige voller Soldatenfliegen. Ihre Ausscheidungen dienen als natürlicher Dünger, erklärt Rodriguez, während die Tiere selbst als proteinreiche Nahrung an Hühner verfüttert werden.
Was in Edible Garden City angebaut wird, wollen wir von Sarah Rodriguez wissen. Keine Tomaten wie in Europa, sagt sie. Stattdessen: Okra, Chili und Granatapfel. Außerdem züchte man tropischen Thymian, der an 70 Restaurants geliefert werde, viele davon mit Michelin-Stern. Dazu kämen Mangold, Blattgemüse, Kartoffeln, Pilze, Karotten, Kürbis und der malaysische Königssalat Ulam Raja, „die wichtigste Zutat für unser Nationalgericht Nasi Ulam, ein Kräuterreisgericht. Sehr beliebt nicht nur in der malaiischen Gemeinschaft von Singapur“.
Die landwirtschaftlichen Produkte verkauft Edible Garden City auch an Einzelhaushalte: Seit einigen Jahren schon ist es möglich, sich wöchentlich eine Gemüse-Abokiste nach Hause bringen zu lassen oder hier abzuholen – zu den Abnehmern gehören vor allem junge Ehepaare mit Kindern. Denen sei es wichtig, das ihr Nachwuchs gute Lebensmittel bekommt und gleichzeitig local farming zu unterstützen, sagt Rodriguez.
Ortswechsel: Wir wollen eine der letzten natürlichen Oasen im Nordosten von Singapur besuchen. Wer eine Auszeit von den Hochhausschluchten und Konsumpalästen sucht, der kann sich dort auf eine Zeitreise begeben: Pulau Ubin ist ein verborgener Schatz. Denn als eine der letzten natürlichen Oasen des Stadtstaates bietet das kleine Eiland eine beeindruckende Tierwelt und Naturlandschaft.
Singapurs schroffe Schönheit ist etwa sechs Mal so groß wie Helgoland. Für uns überraschend: Einen Fahrplan gibt es nicht. Die kleine Fähre für die Überfahrt durch die Meerenge von Johor legt erst ab, wenn zwölf Personen an Bord sind. Drüben, auf Pulau Ubin, wo es einst Granitsteinbrüche und Kautschuk-Plantagen gab, liegt heute ein Naturschutzgebiet. Ein Ort ohne Wolkenkratzer und Stahlbeton – dafür ein tropisches Refugium für Flora und Fauna. Der Äquator ist ganze 150 Kilometer nah.
Am Landesteg der Fähre laufen streunende Hunde herum, Männer mit Zigaretten im Mund angeln am Ufer, es geht gemächlich zu: Auf Pulau Ubin ticken die Uhren anders. Das einzige Dorf, Kampung Sungei Durian, besteht aus einfachen Wellblech- und Holzhütten. Die wenigen Bewohner führen ein einfaches, traditionelles Leben. Viele von ihnen sind Fischer, Landwirte oder Händler, ihre Familien leben seit Generationen auf der Insel. Durch das Dorf führt ein Schotterweg statt einer fünfspurigen Stadtautobahn, es gibt Fahrräder statt Luxuskarossen und jede Menge wilde Tiere abseits des Großstadtdschungels. Hier arbeitet Noel Thomas als Conservation Manager für das National Park Board. Die Aufgabe der staatlichen Behörde: die rund 400 Parks von Singapur zu schützen und zu managen. „Pulau Ubin ist die Heimat vieler vom Aussterben bedrohter Pflanzen und Tiere – darunter einige, die nirgendwo sonst in Singapur zu finden sind.“Zum Beispiel der kleine falsche Vampir,
den es nur auf dieser Insel gibt. Oder das vom Aussterben bedrohte malaiische Schuppentier, ein sehr scheues Säugetier, das man vorwiegend nachts zu sehen bekommt.
Die Artenvielfalt von Pulau Ubin zu erhalten, sei von großer Bedeutung für den Naturschutz in Singapur, erklärt uns der junge Wissenschaftler. Deshalb sei der größte Teil der Insel als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Pulau Ubin ist Mikrokosmos und Rückzugsort für seltene Tierarten. Darunter auch Warane, Languren und sogar Nashornvögel. Wir mieten ein Fahrrad und wollen in den Osten der Insel zur Hauptattraktion: den Chek Jawa Wetlands, ein Feuchtgebiet mit Mangrovensumpf. Unterwegs geht es durch tropischen Regenwald, und wir begegnen Waldbewohnern mit feinen Nasen. Die Wild Boars, die wilden Schweine, sind scheinbar an Menschen gewöhnt, denn Autos und Wanderer stören sie nicht. Im Gegenteil, sie wissen genau, wie man an Köstlichkeiten kommt – vor allem bei uns Fahrradfahrern, die in ihren Körben Essbares dabei haben. Aber das gilt auch für die Languren, die entlang der Piste umherziehen und auf unvorsichtige Touristen warten. Am Ende des Weges wartet ein Holzpfad, der über dem Feuchtgebiet zu schweben scheint. Mangroven, wohin das Auge reicht und eine Meereslagune voller Seegras. Es gibt Meeresschnecken, Tintenfische, Seesterne – mit etwas Glück findet man sogar Seepferdchen, während von der anderen Seite die Lichter der Großstadt grüßen.