„Hendrik Wüst kopiert mich“
Der Fraktionschef über fehlendes Geld für Schulen und Kitas, hohe Jugendkriminalität und Thyssenkrupp.
Herr Ott, die SPD kommt in den NRW-Umfragen gerade noch auf 16 Prozent. Woran liegt’s?
OTT Ich nehme das ernst, bleibe aber auch gelassen. Die Umfrage ist eine Reaktion auf Entwicklungen im Bund.
Jetzt machen Sie aber, was Sie sonst der Landesregierung ankreiden: den Fingerzeig nach Berlin.
OTT Die Landespolitik findet in der Berichterstattung leider selten die verdiente Aufmerksamkeit, sodass die Bürger bei Umfragen mit der Ampel im Kopf votieren. Dabei werden bei uns die Themen Bildung, innere Sicherheit, Pflege und Wohnen entschieden. Wir lassen uns aber nicht kirre machen. Nach einem Jahr des Sortierens gehen wir als SPD-Fraktion wieder vermehrt raus zu den Menschen und werden dann 2027 einfach stärkste Kraft.
Sie haben zum Amtsantritt gesagt, Sie seien ein Angriffsspieler. Angesichts der Umfragewerte scheint die Abteilung Attacke aber festzustecken.
OTT Wenn Sie meine Plenarreden nachlesen, werden Sie wenig Defensives finden. Weil aber der Ministerpräsident das Thema Berlin für sich immer noch nicht abgehakt hat, entzieht er sich dem echten Diskurs und produziert lieber Glanzbilder in Hollywood. Bei den zentralen Debatten zu Bildung und innerer Sicherheit war sein Platz im Landtag vergangene Woche wieder verwaist. Wenn die Union ihre Kandidatenfrage geklärt hat, wird er sich nicht mehr so leicht wegducken können.
Muss man aber nicht am Ende festhalten, dass die Wüst’sche Fotostrategie deutlich besser aufgeht?
OTT Die Bürger werden schon genau registrieren, ob jemand eigene Ideen hat oder nur schauspielert. Die Menschen wollen Antworten auf reale Probleme: auf Mieten von 20 Euro je Quadratmeter in Köln-Nippes, auf eine galoppierende Kinder- und Jugendkriminalität, auf Lehrer mit Burn-out, auf den zunehmenden Unterrichtsausfall, auf Probleme im Gesundheitssystem. Wir bilden zwar junge Medizinerinnen aus, die bleiben dann aber zu Hause, weil sie keinen Betreuungsplatz für ihre Kinder finden. Solche Dinge höre ich ständig bei meinem Kneipen-Format. Wüst sollte sich lieber mal um diese Themen kümmern, statt sich mit Veronica Ferres in Los Angeles fotografieren zu lassen. Immerhin: Jetzt versucht er, mich bei der Kneipentour zu kopieren. Ganz genauso wie die CDU im Landtag.
Wie bitte?
OTT Ja, wir müssen als SPD schon aufpassen, welche klugen Konzepte wir einbringen, weil wir immer Gefahr laufen, dass die CDU sie erst kleinredet, um sie dann nach viel zu langem Gezeter selbst umzusetzen. Wir bringen uns immer mit konstruktiven Ideen und Vorschlägen ein. Aber unsere Aufgabe als Opposition ist es, die Regierung zu kontrollieren und nicht, ihren Job zu machen.
Für jegliche Umsetzung fehlt jedoch das Geld.
OTT Die Regierung Kraft hat für gute Schulen ein Vermögen von zwei Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Es wäre – anders als Finanzminister Optendrenk behauptet – überhaupt kein Problem, jetzt gemeinsam mit der NRW-Bank ein vergleichbares Programm für Kitas, Schulen und Krankenhäuser aufzulegen. Aber dafür fehlt der Wille. Im Übrigen genauso bei den kommunalen Altschulden. Da warten wir auf ein echtes NRW-Konzept bis heute vergeblich. Rheinland-Pfalz hat die Kommunen auf eigene Faust entlastet. Als das unsere Oberbürgermeister im Ruhrgebiet gehört haben, hatten die vor Wut Tränen in den Augen. Aber Herr Wüst schafft es auch dort nicht, sich gegen Merz durchzusetzen.
Die Kommunen rufen insbesondere beim Offenen Ganztag nach Hilfen. Was schwebt Ihnen vor?
OTT Es ist ärgerlich, dass mit Josefine Paul und Dorothee Feller ausgerechnet zwei Ministerinnen den Frauen im Land durch ihre Politik schaden, weil sie es nicht schaffen, ein Ganztagsgesetz auf den Weg zu bringen. Sie kümmern sich auch nicht darum, dass Kinder schon beim Schuleingang für den Alltag in den Klassen bereit sind. Hamburg ist da viel weiter und prüft schon im Alter von viereinhalb Jahren, ob die Kinder rückwärts laufen, mit der Schere schneiden oder die Jacke alleine anziehen können. Wo das nicht der Fall ist, wird konsequent gefördert. Bei uns wiederholen dagegen jetzt zehn Prozent der Kinder die erste Klasse. Mit dem Ergebnis, dass es sich in den Grundschulen knubbelt und OGS-Gruppen immer voller werden. Am Ende werden diese dann noch mehr Eltern von Zweit-, Dritt- und Viertklässlern abweisen müssen. Doch der Ministerpräsident duckt sich weg, statt seine Ministerinnen zur Ordnung zu rufen. Er träumt weiter von Hollywood. Nur berufstätige Familien kommen in diesen Träumen leider nicht vor.
Gerade erst wurden Zahlen veröffentlicht, wonach die Kinder- und Jugendkriminalität in NRW deutlich gestiegen ist. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
OTT Der Sheriff-Stern von Herbert Reul hat Rost angesetzt. Er hat in diesem Jahr zwei Milliarden Euro mehr zur Verfügung, als sein Amtsvorgänger 2017 hatte. Und trotzdem liegen die Kriminalitätszahlen wieder über dem Niveau von damals. Dann hat er auch noch das Spiel der Populisten mitbetrieben und vor der offiziellen Vorstellung der Kriminalstatistik mit seinen pauschalen Aussagen zur Ausländerkriminalität von seinen eigenen Fehlern abgelenkt. Er gibt ja offen zu, dass er für die Probleme keine Lösung hat – leider auch im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität. Ein Problem nur anzusprechen mag für einen Konservativen ausreichend sein. Das reicht aber nicht. Es zeigt nur, dass die CDU außer Law and Order kein Konzept hat.
Aber was wäre denn ein Lösungsweg?
OTT Innere Sicherheit ist mehr denn je wieder eine soziale Frage. Wir benötigen dringend ein übergreifendes Gesamtkonzept, das eine Taskforce aus den Bereichen Soziales, Bildung, Integration, Justiz und Inneres bis Sommer erarbeiten muss. Nur wenn das im großen Kontext gedacht wird, können wir das Problem lösen. Bei Jugendlichen brauchen wir zum Beispiel schnelle Strafen, keine Verfahren erst nach zwei Jahren – und mehr Prävention. Wir brauchen auch eine bessere Ausbildung der Lehrer im Umgang mit Trends in den sozialen Medien. Vergangene Woche wurde bei Tiktok wieder zum angeblichen Nationalen Vergewaltigungstag aufgerufen – mit Hunderttausenden Likes. Da reicht kein nettes, pädagogisches Erklärvideo. Wir brauchen zudem eine gezieltere Ansprache etwa durch die Polizei. In meiner Jugend gab es in Köln-Höhenberg einen Dorf-Sherriff, ein älterer Beamter, eine Respektsperson. Vielleicht benötigen wir auch wieder stärker solche Konzepte, um junge Menschen zu erreichen, statt Hundertschaften in die Nachbarschaft zu schicken. Hier geht es schließlich um unsere Kinder – und erst recht um die, die in der Kriminalitätsstatistik noch gar nicht auftauchen. Die das aber schon bald tun werden, wenn die Landesregierung nicht endlich gegensteuert.
Wie bewerten Sie den Einstieg der Tschechen bei Thyssenkrupp? Bedeutet das aus Ihrer Sicht, dass die Belegschaft aufatmen kann?
OTT Das bleibt abzuwarten. Zunächst einmal ist es kein guter Stil gewesen, die Arbeitnehmervertreter nur wenige Stunden vorab über die Entscheidung zu informieren. Betriebsräte und Gewerkschaft sind zurecht auf dem Baum. NRW war mal das Land der Mitbestimmung. Das hat uns groß und stark gemacht. Aber das scheinen einige offenbar zu vergessen. Es wäre jedenfalls fatal, wenn der Einstieg von EPCG bei Thyssenkrupp Steel zu einem weiteren Ausstieg aus guten Arbeitsplätzen führen würde.