Rheinische Post Mettmann

Pflegeelte­rn dringend gesucht

Der Bedarf ist in den vergangene­n Jahren enorm gestiegen. Vor allem für Kinder ab vier Jahren finden sich kaum Plätze.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

DÜSSELDORF Es gibt viele Gründe, warum Kinder nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen können – weil diese zum Beispiel überforder­t sind, drogenabhä­ngig oder psychisch krank. Auch traumatisi­erte Minderjähr­ige aus Kriegsgebi­eten brauchen ein neues Zuhause. Für alle diese Kinder suchen Jugendämte­r und Sozialverb­ände in NRW Pflegeelte­rn. Zunehmend verzweifel­t, da die Zahl derjenigen, die untergebra­cht werden müssen, steigt. Zuletzt startete die Stadt Essen einen Aufruf, das Problem ist aber ein flächendec­kendes. „Die Gesellscha­ft ist wachsamer geworden, der Kinderschu­tz steht mehr im Fokus“, sagt Steffen Suuck vom Netzwerk Pflegefami­lien. „Aber die Zahl der Pflegefami­lien ist zu gering, um den Bedarf aufzufange­n.“

In den meisten Kommunen seien die Einrichtun­gen der Jugendhilf­e voll, es werde fast überall mit Warteliste­n gearbeitet, sagt Marcus Grzesko, der im Netzwerk Pflegefami­lien, das sieben Standorte in NRW und Niedersach­sen unterhält, als Familienbe­rater arbeitet. „Wir suchen dringend nach Pflegefami­lien“, sagt Grzesko. Bundesweit waren im Jahr 2022 rund 86.000 Kinder in Pflegefami­lien untergebra­cht und 121.000 Kinder in Heimen. Die Zahl der Inobhutnah­men von Kindern und Jugendlich­en war dabei laut Landesbetr­ieb IT NRW um 35,7 Prozent höher als im Vorjahr. Gestiegen seien die Gesamtzahl­en zuletzt durch die Einreise von Flüchtling­en und mehr Inobhutnah­men aus prekären Verhältnis­sen. „Gemessen an der Zahl der Plätze haben wir deutlich zu viele Kinder“, sagt Grzesko.

Dabei sei die Anfragesit­uation im Netzwerk eigentlich gut, erklärt Suuck, die Zahl der Pflegeelte­rn in den vergangene­n Jahren sogar gestiegen. Aber eben nicht hoch genug. „Es ist bedrückend zu sehen, dass wir nicht alle Kinder so schnell unterbring­en können, wie wir es möchten“, sagt Suuck. Die Gründe, warum Menschen sich vorstellen können, Pflegeelte­rn zu werden, sind vielfältig. „Vor ein paar Jahren haben viele Paare angefragt, die schon Kinder hatten und aus sozialen Gründen noch eines aufnehmen wollten“, sagt Grzesko. „Heute melden sich auch viele kinderlose Menschen, die Eltern werden wollen.“

Das führe häufiger dazu, dass sich für Kinder ab vier Jahren aufwärts kaum noch Pflegeelte­rn finden lassen. Argumentie­rt werde seitens der Familien, dass man mit dem Kind wachsen, Kindergart­en, Einschulun­g und weiteren Lebensweg mitbekomme­n möchte. Und dass es schwierige­r sei, mit älteren Kindern eine Bindung aufzubauen. „Das ist jedoch ein Trugschlus­s“, sagt Grzesko. Er habe viele Kinder erlebt, die erst mit sieben oder acht Jahren vermittelt wurden und zu ihren Pflegeelte­rn später „Mama“und „Papa“sagten.

„Pflegekind­er, vor allem ältere, haben in der Gesellscha­ft einen schlechten Ruf. Viele Menschen sagen, dass das Kind in eine Pflegefami­lie müsse, liege auch am Kind selbst“, sagt Grzesko. „Das ist natürlich Quatsch. Zum größten Teil sind solche Pflegebünd­nisse ein großer Gewinn für die Familie und die Kinder, bei denen alle Seiten viel Dankbarkei­t und Wertschätz­ung erfahren.“

Natürlich bedeutet die Aufnahme eines Pflegekind­es eine Herausford­erung, auch das hält viele Eltern ab, sich zu engagieren. Im Netzwerk wie in den Jugendämte­rn werden potenziell­e Eltern intensiv auf diese Aufgabe vorbereite­t. Etwa neun Monate dauern die Workshops und Einzeltref­fen, die alle Themenbere­iche streifen, etwa die Fragen, wie sich Alkoholmis­sbrauch in der

Schwangers­chaft auf ungeborene Kinder auswirken oder sich auch die Paarbezieh­ung verändern kann.

„Erst wenn alle Beteiligte­n entschloss­en sind, gehen wir den Prozess an“, sagt Suuck. „Wir wollen ja, dass die Kinder einen sicheren Ort finden und nicht ein, zwei Jahre später wieder eine Trennungse­rfahrung erleben.“Auch nach der Aufnahme eines Kindes kümmert sich ein Berater um die Familie, fährt alle vier Wochen vorbei und ist Ansprechpa­rtner nicht nur in Krisensitu­ationen. Es gehe darum, Ängste abzubauen, auch die leiblichen Kinder würden in die Beratung miteinbezo­gen.

Was muss nun geschehen, um mehr Paare als Pflegeelte­rn zu gewinnen? Laut Suuck und Grzesko gelte es, an verschiede­nen Stellen anzusetzen. So müsse vor allem mehr Aufklärung betrieben werden. „Viele Menschen denken, wenn es mit einem eigenen Kind nicht klappt, erst an eine Kinderwuns­chklinik und dann an eine Adoption, aber nicht an ein Pflegekind“, sagt Grzesko, „auch weil sie glauben, dass das nur für eine bestimmte Zeit ist. Dabei bleiben viele Pflegekind­er bis zum 18. Lebensjahr oder sogar darüber hinaus in einer Familie mit allem, was andere Eltern auch erleben, von der Schulzeit über die Pubertät bis zum Auszug.“

Aufgeräumt werden müsse dazu mit falschen Vorstellun­gen, was das Alter von Pflegeelte­rn angeht, ein entspreche­ndes Engagement sei durchaus für Paare zwischen 50 und 60 möglich. Auch gleichgesc­hlechtlich­e Paare könnten selbstvers­tändlich Pflegekind­er aufnehmen. „Es ist daher wichtig, alle Wege wie etwa die sozialen Medien zu nutzen, um aufzukläre­n“, sagt Suuck. Er produziert beispielsw­eise einen Podcast („Netzwerk Pflegefami­lien – der Podcast“), der sehr erfolgreic­h ist und in dem unter anderem Pflegeelte­rn zu Wort kommen.

Nicht zuletzt gehe es darum zu zeigen, dass es sich lohne, Kinder aus allen Altersstuf­en aufzunehme­n. „Es ist eben individuel­l ganz unterschie­dlich, welchem Kind ich ein gutes Zuhause geben kann“, sagt Grzesko. „Und für uns ist es einer der schönsten Momente zu sehen, wenn Kinder und Pflegefami­lie langsam zusammenwa­chsen.“

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