Besuch ohne Beifall
ISTANBUL Frank-Walter Steinmeier wollte am Montag am Istanbuler Bahnhof Sirkeci demonstrieren, wie nahe sich Deutsche und Türken sind. In dem Bahnhof, einst Endstation des Orientexpresses, stiegen in den 1960er-Jahren Zehntausende Türken in Züge, die sie als „Gastarbeiter“nach Deutschland brachten. Steinmeier würdigte die Leistung der türkischen Arbeiter in Deutschland und sagte, die Bundesrepublik sei „ein Land mit Migrationshintergrund“. Demonstranten am Bahnhof zeigten dem Bundespräsidenten jedoch, dass manche Türken eher Gegensätze zwischen beiden Ländern sehen als Gemeinsamkeiten. Der dreitägige Staatsbesuch aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums diplomatischer Beziehungen zwischen Türkei und Deutschland ist für Steinmeier kein Spaziergang.
Der Bundespräsident besuchte nach der Ankunft in Istanbul zusammen mit Bürgermeister Ekrem Imamoglu eine Ausstellung über die Arbeitsmigration im Bahnhof Sirkeci. In mittlerweile vier Generationen trügen Türken zum Wohlstand in Deutschland bei, sagte Steinmeier. Die drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln gehörten in der Bundesrepublik „ins Herz der Gesellschaft“. Der Bahnhof in Istanbul stehe „für die enge Verbindung zwischen unseren beiden Ländern“. Deutsche würden in der Türkei mit offenen Armen empfangen.
Für Steinmeier selbst galt das nur teilweise. Zwar begrüßte Imamoglu, Hoffnungsträger der türkischen Opposition, den deutschen Präsidenten herzlich. Er freute sich über das „Signal“, das die deutsche Seite laut Bundespräsidialamt mit der Begegnung zwischen Steinmeier und Imamoglu verband: Imamoglu ist Herausforderer des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogans, den Steinmeier erst am Mittwoch in Ankara treffen will.
Schon zum Auftakt des Besuchs in Istanbul wurde aber deutlich, dass Steinmeiers Gespräche in der Türkei schwierig werden dürften. Demonstranten mit Hakenkreuz-Plakaten und Schildern mit der Aufschrift
„Mörder“protestierten am Bahnhof Sirkeci gegen Steinmeier und die deutsche Unterstützung für Israel im Gaza-Krieg. Deutschland beteilige sich an einem Völkermord. Erdogan denkt ähnlich über Israels Krieg. Er hatte kurz vor Steinmeiers Besuch den Hamas-Chef Ismail Hanijeh empfangen, der von Deutschland als Terrorist gesehen wird.
Auch Tendenzen in Imamoglus Oppositionspartei CHP könnten für Deutschland und andere EU-Staaten
unangenehm werden. Seit den CHP-Siegen bei den Kommunalwahlen im März machen Politiker der Partei mit ausländerfeindlichen Aktionen und Forderungen nach Abschiebung syrischer Flüchtlinge nach Deutschland von sich reden.
In der westtürkischen Millionenstadt Bursa verabschiedete der neue Stadtrat auf Vorschlag des neuen CHP-Bürgermeister Mustafa Bozbey als erste Amtshandlung ein Verbot von Schildern in anderen Sprachen als Türkisch. In der zentraltürkischen Stadt Afyonkarahisar versiegelte CHP-Bürgermeisterin Burcu Köksal die Geschäfte von syrischen Besitzern. „Wir werden die Flüchtlinge aus unserer schönen Stadt vertreiben, und zwar ohne Wenn und Aber“, sagte die Bürgermeisterin dazu in die Kameras. Wenn sich ein Bürgermeister eines EU-Staates so verhielte, würde er als Nazi bezeichnet, kritisierte der Parlamentsabgeordnete Mustafa Yeneroglu von
der bürgerlichen Oppositionspartei Deva gegenüber unserer Redaktion.
Die CHP-Kommunalpolitiker in Bursa und Afyonkarahisar folgen dem Vorbild von Tanju Özcan, dem CHP-Bürgermeister der zentralanatolischen Stadt Bolu, der für seine ausländerfeindliche Politik bekannt ist und bei den Kommunalwahlen vor drei Wochen im Amt bestätigt wurde. Özcan brüstet sich damit, die Zahl der Syrer in Bolu von 20.000 bei seinem Amtsantritt vor fünf Jahren auf heute 3800 gesenkt zu haben. Nach seiner Wiederwahl kündigte Özcan an, er werde nun auch gegen afrikanische Studenten an der örtlichen Universität einschreiten und sie mit „astronomischen Preisen“für Busfahrkarten vergraulen. Die Türkei müsse dringend das Flüchtlingsabkommen mit der EU kündigen, forderte Özcan im Wahlkampf im CHP-nahen Sender Sözcü-TV. Die syrischen Flüchtlinge sollten entweder nach Syrien zurückkehren oder „nach Deutschland oder Griechenland gehen“.
CHP-Politiker benutzten das Thema Flüchtlinge zum Stimmenfang, sagt Gülseren Yoleri vom Menschenrechtsverein IHD in Istanbul. „Wir haben die CHP aufgerufen, das zu stoppen“, sagte sie unserer Zeitung. Bisher habe sich die Parteiführung aber nicht von den populistischen Parolen distanziert. Die CHP wolle sich mit dem Flüchtlingsthema als Oppositionspartei profilieren, sagte die Menschenrechtlerin: „Das ist sehr gefährlich.“