Wohltuende Schwermut
Zum Finale ihrer Tournee treten Depeche Mode drei Mal in der Kölner Arena auf. Schon der erste Abend brachte eine unglaubliche Version von „Strangelove“. Und die Gewissheit: Sänger Dave Gahan steht nicht, sondern schwebt.
KÖLN Lied drei ist gleich mal der Gral: vier Minuten, die zum Besten gehören, was diese Arena in der letzten Zeit erlebt hat. Die Bühne leuchtet blutrot, Martin Gore spielt Gitarre, und Dave Gahan ist in Gedanken in Memphis, einem höllischen Memphis, er bewegt sich wie Elvis, wie Elvis im Fegefeuer. Er biegt die Knie nach innen, geht in die Hocke, steht dabei auf Zehenspitzen und wirft die Hände in die Luft, als wollte er Tesafilm von den Fingerkuppen schütteln. Er zuckt und wirbelt und hebt den Mikrofonständer über den Kopf. Er ruft: „Try walking in my shoes.“Das Publikum antwortet: „You‘ll stumble in my footsteps.“
Depeche Mode beenden ihre im März 2023 begonnene „Memento Mori“-Welttournee in Köln, drei Konzerte geben sie zum Finale in der Lanxess-Arena, und schon der erste Abend vor 16.000 Fans lässt keine Wünsche offen. Es wirkt, als rekrutierte sich das ebenso großartig wie die Band aufgelegte Publikum vor allem aus den Hingebungsvollen, Total-Treuen, aus der Die-Hard-Anhängerschaft. Manche tragen T-Shirts mit dem Cover der „Music for the Masses“-LP aus dem Jahr 1987. Eine Frau hat die Rose vom „Violator“-Album als Tattoo im Nacken, eine andere hat ein schwarzes Cape mit Pelzbesatz übergeworfen, ihr Begleiter führt einen Anzug mit schwarzen und dunkelgrauen Streifen aus.
Depeche Mode ist eine LebensBegleitband. Man hat sie nie über. Sondern fühlt sich im Gegenteil immer wohler mit ihr. Man pickt sich für jede Stimmungslage den entsprechenden Song aus der jeweils passenden Werkphase heraus. In der existenziellen Weite zwischen Himmel und Hölle kann man sich leicht verirren. Am Faden dieser Lieder aber geht man nicht verloren. Angereichert um die eigenen Lebenserfahrungen funktionieren die Songs manchmal sogar besser als damals. „Enjoy the Silence“zum Beispiel wächst immer weiter und steht noch erhabener da als 1990 – auch das beweist dieser Abend.
Dave Gahan läuft von Beginn an und bei zunächst brutaler Lautstärke hochtourig, das weiße Sakko legt er früh ab. Auf den mächtigen Leinwänden neben der Bühne ist er überlebensgroß in Schwarzweiß zu sehen, mit den kajalumrandeten Augen sieht er aus wie ein Nachfahre Nosferatus, mit deutlichem Schlag ins Exaltierte: ein Dandy-Diavolo, ein sardonischer Charmeur, der an der Stelle, wenn der Song „In Your
Room“wie ein defektes Zahnrad ausrastet und explodiert, wie unter Strom gesetzt im Strobo-Licht tanzt. Wenn man so nah an die Bühne dürfte, wie man wollte, könnte man wahrscheinlich mit der Hand widerstandslos zwischen den Bodenbrettern und den Sohlen der weißen
Mackerstiefel des Sängers hin und her wischen. Es wäre der Beweis: Gahan steht nicht, er schwebt. Der 61-Jährige ist Rock-’n’-Roll-Erlöser und Rock-’n’-Roll-Erlöster: Reach out, touch Dave.
Die Bandmitglieder widmen „Behind the Wheel“dem 2022 mit 60 Jahren gestorbenen Kollegen Andy Fletcher. Und sie bringen das gigantische „Black Celebration“. Bei „A Pain That I‘m Used To“stolziert Gahan wie ein begabter Schauspielschüler, den seine Lehrer aufgefordert haben, bitte mal wie auf High Heels zu gehen, obwohl er keine High Heels anhat. „It’s No Good“holt er von tief unten aus dem Beckenboden, bei „Policy of Truth“nimmt er den Mikroständer zwischen die Beine und macht Sachen.
Magisch sind die beiden von Martin Gore in die Mehrzweckhalle geschmeichelten Nummern. Er stellt sich vorne an den Steg, er hält das Mikrofon in beiden Händen, und dann singt er „Strangelove“, und wenn das nicht total bescheuert wäre, würde man am liebsten die Augen schließen, so schön ist das. Der 62-Jährige schickt „Home“hinterher, er ist in diesem Augenblick Schmerzengel, Hingebungs-Euphoriker und Sphärenmusiker. Als Gahan zurückkehrt, singt das Publikum
Gores Song einfach weiter, und weil sie da oben natürlich merken, was hier gerade los ist, umarmen sie einander, und auch das lässt einen seufzen: Dave und Martin!
Das Konzert wird mit jeder Minute besser. Sie geben „Stripped“, „Just Can’t Get Enough“und natürlich „Never Let Me Down Again“. Und weil die Tournee mit den Konzerten Nummer 111 bis 113 zu Ende gehen wird und niemand weiß, wann sie wieder auftreten, darf man ruhig grundsätzlich werden. Die Lebensleistung dieser Band besteht darin, die Schlaglöcher des Lebens mit Melodien aufzufüllen, damit man einfach über sie hinwegschreiten kann. Sie malen die Finsternis bunt an, aber immer so, dass genug von der opak-schwarzen Grundierung durchscheint. Dave Gahan veredelt das Ganze mit detailverliebt ausgeschmückten Korrespondentenberichten aus den entlegeneren Regionen menschlicher Perversion und Abgründigkeit. Und während er da vorne rumgockelt und -geistert, zuckert Martin Gore die Textgetüme aus dem Hintergrund mit einer Handvoll Sternenstaub, den er in den Hosentaschen stets in ausreichender Menge mit sich führt. Herrlich.
Das Ende gehört nach rund zwei Stunden und 15 Minuten traditionell „Personal Jesus“. „Someone to hear your prayers / Someone who cares.“Schwermut tut gut.
Dave Gahan läuft von Beginn an und bei zunächst brutaler Lautstärke hochtourig