Eine Klasse für sich
Seit 1974 steht der VW Golf für die Erfolgsstory deutscher Automobilkunst. Hommage an einen Dauer(ver)brenner von einem, der ihm zumindest früher verfallen war.
ls im März 1974 der erste VW Golf vom Band rollte, war ich noch auf einem zitronengelben Rennrad
und träumte davon, meinen Radius per Motorkraft zu vergrößern. Nach den eher runden Formen von Käfer und Co. erschien mir die schnörkellose Kantigkeit des Golfs wie der Vorbote einer Zukunft voller Möglichkeiten. Ungeahnt modern wirkte dieses Modell, dabei enorm handlich und trotz seiner Kastenform irgendwie schnittig. Mit den Augen eines 14-Jährigen: begehrlich. Aber leider vorerst unerreichbar. Ich musste mich also noch ein paar Jahre gedulden, bis ich am Steuer meines ersten eigenen Golfs sitzen durfte. Die Liaison war zwar nicht von langer Dauer, aber was soll ich sagen: Ich habe ihn geliebt.
Wie wohl die meisten anderen Golf-Besitzer ihre Fahrzeuge auch. Rund sieben Millionen Exemplare verkaufte Volkswagen von der ersten Baureihe, ein Riesenerfolg und der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Obwohl der vom italienischen Designer Giorgio Giugiaro entworfene Wagen anfangs als Schuhschachtel oder Blechbüchse verspottet wurde. Es war also für viele nicht Liebe auf den ersten Blick, dafür dann eine umso innigere. Vielleicht, weil der Golf alles anders machte als der Käfer, den er ablösen sollte. Er war nicht nur kantiger und kastiger, sondern setzte auf Front- statt Heckantrieb sowie auf Wasser- statt Luftkühlung und kam mit Heckklappe statt mit knappem Stauraum unter der Haube. Aber er schaute ähnlich freundlich aus dem Blechkleid wie sein legendärer Vorläufer.
Tatsächlich näherte auch ich mich dem Golf über den Käfer. Nachdem mein erster Wagen, ein für 250 Mark erstandener Renault 4 mit Pistolenschaltung, wegen Holmbruchs nach drei Monaten das Zeitliche gesegnet hatte, stieg ich in einen cremefarbenen Käfer um. Schon bald tauschten wir den 30-PS-Motor gegen einen 50-PSVW-Busmotor, mit dem sich auf schneeglatten Fahrbahnen herrliche Pirouetten drehen ließen. Zum Verständnis: Damals gab es noch Schnee und leere Straßen.
Warum auch diese automobile Beziehung endete, daran erinnere ich mich nicht mehr, nur dass danach, Anfang der 80er, der erste Golf in mein Leben trat. Tiefblau, schon betagt, und mit 75 PS der schnellste unterhalb des GTI. Unvernünftig, leicht rostnasig, aber ein Knaller. Ich konnte nicht widerstehen.
Richtig erklären lässt sich diese Faszination nicht. Bis heute hat VW rund 37 Millionen Golf verkauft, das Modell hat damit schon lange den Käfer überholt (21,5 Millionen) und ist nach dem Toyota Corolla und der Ford F-Serie das drittmeistverkaufte Modell aller Zeiten. Was die Marketingstrategen von VW zu dem genialen Slogan „Das Auto“inspirierte.
Irgendwie löste der Wagen weltweit einen Haben-wollen-Impuls aus, und das über fünf Jahrzehnte und acht Fahrzeug-Generationen hinweg. Die erste war dabei aus heutiger Sicht ein zierliches Leichtgewicht, gerade mal 3,70 Meter lang und 800 Kilogramm schwer, selbst der eigentlich eine Klasse darunter positionierte Polo bringt es heute auf rund vier Meter und 1100 Kilogramm. Die Motoren des Golf I hatten zunächst nur 50 und 70 PS, später folgten eine 75-PS-Variante und der GTI mit 110 PS. Los ging das Vergnügen bei 8795 Mark. Wie viel ich damals für meinen ersten Golf bezahlt habe, weiß ich nicht mehr, aber allzu viel kann es nicht gewesen sein. Aus Gründen, die sich bald offenbarten und die nächste Schrottautomobilie erforderlich machten.
Bis dahin aber genoss ich es, in dem blauen Blitz unterwegs zu sein und mit dem Golfball auf dem Schalthebel durch die Gänge zu jagen. Wobei der Golfball ja nur eine Art ironische Reminiszenz darstellte, hatten die VW-Entwickler bei der Namensgebung angeblich doch eher den Golfstrom im Sinn oder eine Meeresbucht. Möglicherweise, so will es die Legende, gab es auch ein Pferd eines VW-Granden namens Golf, das Pate gestanden haben soll. Ursprünglich sollte der Golf sowieso Blizzard oder Scirocco heißen, aber daraus wurde nichts. Beziehungsweise etwas anderes. Und die Ingenieure nannten den Kompakten kurz Entwicklungsauftrag (EA) 337. Mit dem Namen wäre es wohl beim ersten Modell geblieben.
Was der Wagen wirklich zu leisten vermag und weshalb er gleich einer ganzen Klasse seinen Stempel plus seinen Namen aufdrückte, habe ich erst mit meinem zweiten Golf begriffen. Ein Golf II, rot, 50 PS und im Vergleich zum Vorgänger minimal pausbäckiger, aber unschwer als Golf zu erkennen. Trotz seiner Farbe ein unauffälliges Auto, solide, zuverlässig, auf angenehme Weise nüchtern. Mit ihm sind wir 2500 Kilometer nach Andalusien gefahren und zurück, vier Erwachsene mit Gepäck. Problemlos, ohne Aussetzer, nur bei einer Bergtour auf mehr als 3000 Höhenmeter ging dem Golf die Puste aus. Nach der Reise war eines sonnenklar: Mehr Auto braucht kein Mensch.
Auch dieser Umstand ist wohl Teil der unendlichen Erfolgsstory des Vehikels aus Wolfsburg. Vorübergehend benannte sich die Stadt mal in Golfsburg um, da war der Erfolg dann wohl etwas zu Kopf gestiegen. Aber natürlich ist es generell schwierig, immer dem bodenständigen Image des eigenen Produktes zu entsprechen, wenn auf dessen Verkaufszahlen quasi das Wohl und Wehe eines weltumspannenden Konzerns ruht. Grundsätzlich lautete die Devise beim Golf immer, der Klassenbeste zu sein, aber ohne streberhafte Allüren. Sondern normal durch und durch, einer, der mit inneren Werten glänzt. Raumangebot, Verarbeitung, TopTechnik. Das Maß aller kompakten Dinge, neudeutsch: die Benchmark.
So gehört das Auto zur bundesrepublikanischen Identität wie die Lufthansa oder die Deutsche Bahn, ist aber deutlich positiver besetzt. Der Golf ist seit 50 Jahren Teil der Alltagskulisse; Exemplare aus mehreren Generationen fahren als Fahrschulauto herum, stehen im eigenen Fuhrpark oder in dem des Nachbarn. Im Jahr 2009 war jeder zehnte Neuwagen ein Golf, die drei großen Hersteller BMW, Ford und Audi verkauften in diesem Jahr insgesamt weniger Autos als Volkswagen alleine mit seinem Bestseller. Mehr Dominanz geht kaum.
Auch in den Vergleichstests setzte sich der Wolfsburger notorisch von der Konkurrenz ab, sehr zum Verdruss mancher Käufer, die zunehmend mindere Qualität bemängelten. Tatsächlich wurde der Golf zuletzt vom Zulassungsthron, den er jahrelang innehatte, verdrängt – ausgerechnet von einem USamerikanischen Tesla.
Auch ich bin meinem zweiten Golf irgendwann untreu geworden. Im Stich gelassen hatte er mich nie. Trotzdem gab es über die Jahre nie mehr einen neuen Golf, irgendwie war das Kapitel abgeschlossen. Gleichwohl blieb der Wagen auch in meiner Wahrnehmung allgegenwärtig, bin ich in neueren Golf-Modellen mitgefahren oder saß selbst mal hinterm Steuer.
Nur wollte der Funke nicht mehr überspringen. Vielleicht, weil er im Gegensatz zu seinem Debüt, als er alles radikal anders gemacht hatte als sein Vorgänger, über die Jahrzehnte hinweg alles immer genauso machen wollte wie die Autogeneration zuvor, nur besser.
Aus dem einstigen Revolutionär war ein Langweiler geworden, ein Musterschüler ohne Fehl und Tadel. Es fehlte das gewisse Etwas, eine Portion Coolness.
Aber auch wenn die Anziehungskraft des Golfs über die Jahrzehnte etwas nachgelassen hat, so bleibt er doch nach wie vor eine wesentliche Leitplanke im deutschen Automobilbau. Ohne den Golf ist die hiesige automobile Landschaft kaum vorstellbar, er steht für innovative Ingenieurskunst und ist zugleich die Cashcow des größten Autobauers. Und hat damit natürlich bei Volkswagen auf ewig einen Platz im Modellreigen sicher. Selbst wenn die vollelektrische ID-Serie bei VW spätestens 2035 die Verbrennerversionen ablöst, soll es weiter ein Modell namens Golf geben. Elektrisch angetrieben, aber von den Genen her unverkennbar.
Der Golf muss bleiben.
Selbst wenn alle Rad fahren.