Schleppende Wiedergutmachung
Italien wollte nach einem Rechtsstreit die Opfer deutscher NS-Gewalt selbst entschädigen. Nun mangelt es an Geld. Die Betroffenen fühlen sich verhöhnt.
ROM Mirella Lotti war acht Jahre alt, als sie ihren Vater und ihren Großvater verlor. Deutsche Soldaten ermordeten am 23. Juli 1944 ihre beiden Angehörigen und weitere zehn Männer in Pratale bei Florenz. Lotti ist heute 88 Jahre alt, erst im vergangenen November sprach ihr ein italienisches Gericht einen Anspruch auf Schadensersatz zu. Die alte Frau sollte 50.000 Euro für jenen Verlust vor 80 Jahren bekommen, befanden die Richter. Aber dann erhob die Staatsanwaltschaft Einspruch, das Verfahren geht in die nächste Instanz und niemand weiß, ob Lotti jemals einen Cent sehen wird für die damaligen Gräuel.
Etliche Angehörige von NS-Opfern in Italien erleben gerade denselben schlechten Traum. Nach Jahrzehnten wurden die von ihnen erlittenen Schäden gerichtlich anerkannt, aber nun stellt sich Italiens Regierung in den Entschädigungsprozessen mittels der Staatsanwaltschaft quer. Die Verfahren werden in die Länge gezogen, die Ansprüche mit teilweise fadenscheinigen Argumenten angezweifelt. Die meisten Angehörigen der knapp 13.000 zivilen Opfer deutscher NS-Gewalt in Italien sind schon sehr alt. Viele von ihnen werden die Entschädigung und damit die Anerkennung des von ihnen erlittenen Schadens nicht mehr erleben. Es sei eine „Staatsschande“, schrieb „La Repubblica“.
Eine rein italienische Angelegenheit? Nicht ganz. Gegen Gerichtsbeschlüsse in Italien, mit denen die Schadensersatzansprüche von NS-Opfern in deutsches Eigentum zwangsvollstreckt werden sollten, erwirkte die Bundesregierung Beistand vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Mit Verweis auf das Prinzip der Staaten-Immunität, demzufolge kein Staat der Gerichtsbarkeit eines anderen Staates unterliegt, bekam Deutschland, das Italien verklagt hatte, mehrfach recht. Für die Opfer-Familien wirkte das wie ein Schlag ins Gesicht.
Es war die Regierung von Ministerpräsident Mario Draghi, die diesen Missstand beheben wollte. 2022 richtete sie einen „Fonds zur Entschädigung der Opfer von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ein, die in Italien durch Streitkräfte des Dritten Reichs während des Zweiten Weltkriegs begangen wurden. Italien erklärte sich bereit, für NS-Verbrechen zu bezahlen. Vollstreckungsverfahren gegen Berlin wurden in dem Gesetz explizit für unwirksam erklärt. So legten Rom und Berlin vor zwei Jahren ihren jahrelangen Rechtsstreit bei. Der Fonds, angesiedelt beim italienischen Finanzministerium, wurde mit 55 Millionen Euro bestückt, die dann um weitere sechs Millionen aufgestockt wurden.
Jetzt reicht das Geld hinten und vorne nicht. „Man kann hier eine Absicht erkennen, die Fälle zu blockieren und zu verzögern“, sagt der Florentiner Anwalt Iacopo Casetti über das Gebaren der Staatsanwaltschaft. Er vertritt unter anderem die 88-jährige Mirella Lotti. Casetti spricht von einer „prozessualen Schizophrenie“. Der Draghi-Fonds sei aufgesetzt worden, „damit nach 80 Jahren ein Schlusspunkt gesetzt und internationale Fragen geklärt werden konnten“. Die Regierung Meloni stelle diese Absicht nun wieder auf den Kopf.
2022 stand offenbar die Beilegung des Rechtsstreits mit der Bundesrepublik im Vordergrund und nicht die Effektivität der Entschädigungen. Opfer-Anwalt Roberto Alboni aus Arezzo sagt: „Ich denke, nicht ideologische, sondern finanzielle Motive stehen hinter dem Gebaren der Staatsanwaltschaft.“„Der Fonds ist bereits heute zu klein“, sagt auch Anwalt Gabriele dalle Luche. Er vertritt Nachkommen des NS-Massakers im toskanischen Sant’Anna di
Stazzema, wo am 12. August 1944 mehr als 500 Frauen, Kinder und Männer von den Deutschen ermordet wurden. In drei Prozessen vor einem Gericht in Florenz fordern die Angehörigen mehr als 130 Millionen Euro Schadensersatz.
Angesichts dieser Summen machen Finanzministerium und Staatsanwaltschaften den Nachkommen das Leben schwer. Das Agieren der Staatsanwaltschaft sei
„keine Unachtsamkeit gegenüber den Opfern der NS-Verbrechen, sondern ein verfassungsrechtliches Gebot der Achtung des Rechts“, zitiert „La Repubblica“eine Erklärung der Regierung. Es gehe allein um die „sorgfältige Überprüfung der Voraussetzungen für den Schadensersatzanspruch“.
Die Angehörigen fühlen sich verhöhnt. Die Bürgermeister verschiedener Orte, an denen NS-Massaker begangen wurden, protestieren. „Die Bürger, die heute Entschädigung fordern, werden mit der Idee eines feindlichen Staates sterben“, schrieb Maurizio Verona, Bürgermeister von Sant’Anna di Stazzema in einem Protestbrief an Staatspräsident Sergio Mattarella. „Nach allem, was wir durchgemacht haben, hätte ich nie gedacht, dass es so weit kommen könnte“, sagt auch Mirella Lotti: „Ich fühle mich gedemütigt, weil dies endlich eine Möglichkeit war, allen jenen Menschen, die wie mein Vater von den Nazis umgebracht wurden, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“
„Man kann hier eine Absicht erkennen, die Fälle zu blockieren und zu verzögern“Iacopo Casetti Anwalt