ANALYSE Im Labor des modernen Populismus
Stimmungen für eigene Zwecke auszunutzen, das hat in Italien seit der Ära Berlusconi Tradition. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gibt sich zwar gern gemäßigt, hat aber vermutlich eher aus den Fehlern ihrer Vorgänger gelernt.
ROM Politiker, aber vor allem populistische Politiker schielen auf die nächsten Wahlen. Sie fragen sich, mit welchen Versprechen oder politischen Projekten sie ihr Ziel, den Erhalt oder Ausbau ihrer Macht, erreichen können. Während die größte Ambition eines Politikers das Wohl der Gemeinschaft im Sinne der Polis sein sollte, zielen Populisten auf ihr eigenes Wohl, indem sie Stimmungen zu eigenen Zwecken erkennen, ausnutzen und fördern. Italien ist in diesem Sinne ein Labor des modernen Populismus.
Im Jahr 1993 gab Silvio Berlusconi seinen Eintritt in die Politik bekannt. Das Hauptmotiv seines Engagements war die Sorge um das Wohl seines Fernsehimperiums. Der ebenso skrupellose wie geniale Unternehmer war von der Politik und ihren Gesetzen abhängig, also entschloss er sich, das Heft selbst in die Hand zu nehmen. Der im vergangenen Juni gestorbene Politiker verband an der Macht freilich private mit politischen Interessen, die in Antikommunismus und tief sitzender Staatsskepsis Konsens und ihren Ausdruck fanden. Damit war in Italien nach dem Zusammenbruch der Christdemokratie 1992 Staat zu machen.
Die Abgründe des Berlusconismus sowie die Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2008 förderten in Italien dann den Linkspopulismus der Fünf-Sterne-Bewegung zutage. Ihr Gründer war der Komiker Beppe Grillo, der schon 2007 mit einem „Vaffanculo Day“(„Leckmich-am-Arsch-Tag“) eigentlich hehre Absichten verfolgte, nämlich die Durchsetzung von moralischen Mindeststandards für die Kandidatur als Politiker. Die Art und Weise seines Vorgehens erinnerte freilich an die von ihm kritisierte Kaste. Seriöse Politik war durch diesen Stil unmöglich geworden – und auch gar nicht gewollt.
Im Windschatten des populistischen Dualismus Berlusconi–Grillo hatte sich die Lega Matteo Salvinis mit ihrem Rechtspopulismus des rechten Wählerspektrums bemächtigt. Der Schlüssel zu Salvinis Erfolg war die Abkehr von der sezessionistischen Politik der einstigen Lega Nord, Berlusconis erstem Koalitionspartner 1994. Salvini verfolgte ab 2013 einen rechtsnationalen Kurs nach dem Vorbild Marine Le Pens in Frankreich und verband ihn mit Protesten gegen die aus Finanznot nach der Ägide Berlusconi beschlossenen
Sozialreformen und eine weitverbreitete EU-Skepsis in Italien.
Während die Fünf Sterne das soziale Unbehagen geschickter ausnutzten, wählte Salvini die Immigration, um die Bauchgefühle der verunsicherten und international in ihrem Stolz gekränkten Italiener und eine diffuse Fremdenangst zu bedienen. Mit aggressivem und von den sozialen Netzwerken potenzierten Kampagnen gegen Migranten, später auch gegen Retter im Mittelmeer, sicherte sich der Parteichef die Gunst des rechten Spektrums. Als Innenminister in der Populisten-Koalition mit der Fünf-Sterne-Bewegung ersann Salvini die Methode der Schiffsblockaden, bei denen Hunderte im
Mittelmeer aufgegriffene Migranten auch auf Schiffen der Marine in Häfen festgehalten wurden.
Giorgia Meloni, seit gut einem Jahr Ministerpräsidentin, hat vom Größenwahn Salvinis profitiert. Der wollte 2019 seinen Erfolg bei der Europawahl (34 Prozent) auf die nationalen Kräfteverhältnisse übertragen und ließ die Populisten-Koalition mit der Hoffnung auf Neuwahlen platzen, scheiterte aber mit diesem Plan. Das war auch dem sozialdemokratischen Populisten Matteo Renzi 2016 geschehen, als er eine später gescheiterte Verfassungsreform mit seinem eigenen politischen Schicksal verband und zurücktreten musste.
Melonis Populismus ist an der Regierung einem gewissen Realitätssinn gewichen. Von einer im Wahlkampf versprochenen Schiffsblockade gegen Migration ist keine Rede mehr; Meloni mäßigt ihren Ton und sucht – wenn auch umstrittene – Lösungen. Das gilt etwa für die Flüchtlingsabkommen mit Tunesien und Albanien. Diesen Weg bekräftigte sie am Donnerstag bei ihrer Pressekonferenz zum Jahresabschluss in Rom. Die EU-Asylreform halte sie für keine nachhaltige Lösung, um die irreguläre Migration nach Europa einzudämmen: „Wir werden das Problem niemals lösen, wenn wir darüber nachdenken, wie wir mit Migranten umgehen, wenn sie in Europa ankommen.“Die Menschen müssen aus ihrer Sicht schon früher daran gehindert werden, überhaupt nach Europa zu kommen. Als Vorsitzland der Gruppe der sieben großen Industriestaaten (G7) in diesem Jahr will Italien Migration und Afrika als zentrale Themen setzen.
Melonis Weg als populistisch zu brandmarken, greift letztlich zu kurz. Vielleicht hat sie einfach nur von ihren Vorgängern und aus deren Missgeschicken gelernt. (mit dpa)