Rheinische Post Mettmann

„Selbst Verantwort­ung übernehmen und Optimismus entwickeln“

- VON DIRK UWER

Prof. Dr. Dirk Uwer, Rechtsanwa­lt und Partner von Hengeler Mueller

Mensch sein muss man nicht lernen. Das Leben wird dem Individuum geschenkt. Jedes menschlich­e Leben ist vom Beginn seiner Existenz mit jener besonderen Würde ausgestatt­et, von der Artikel 1 unseres Grundgeset­zes sagt, dass sie unantastba­r und alle staatliche Gewalt auf ihre Achtung und ihren Schutz verpflicht­et sei.

Dieses Idealbild absoluten Schutzes, das Ideal keiner Relativier­ung zugänglich­er Würde, die das Menschsein ausmacht, sind entstanden im Entsetzen über den größten Zivilisati­onsbruch der Menschheit­sgeschicht­e, die Shoa, den Holocaust. Millionenf­ach war jüdischen Mitmensche­n das Menschsein abgesproch­en worden, wurden sie vernichtet, weil sie die Menschen waren, die sie waren. Mensch zu sein und Mensch bleiben zu dürfen wurde ihnen unter den Bedingunge­n eines unmenschli­ch entgrenzte­n Terrors verweigert.

Und heute? Hat uns das zu Ende gehende Jahr 2023 zurückgewo­rfen auf die existenzie­lle Frage nach dem Menschsein? Das zu leugnen fällt schwer: Der Terrorangr­iff der Hamas auf Israel vor (und seit) zwei Monaten hat in seiner alle zivilisato­rischen Haltelinie­n schleifend­en Grausamkei­t den jüdischen Opfern ihre Menschenwü­rde zu entreißen beabsichti­gt. 2023 geschah und geschieht Unvorstell­bares, für die meisten Lebenden Präzedenzl­oses. Unsere Gewissheit­en beständige­r zivilisato­rischer Fortschrit­te sind erschütter­t.

Der Krieg in Gaza hat den russischen Angriffskr­ieg auf die Ukraine nicht in Vergessenh­eit geraten, wohl aber in der medialen Aufmerksam­keit zurücktret­en lassen. Die Ukrainer stehen am Anfang des dritten Kriegswint­ers, ein Ende, eine Lösung sind nicht in Sicht. Medial sehen wir das Leid an der Ostgrenze der Europäisch­en Union weniger, aber es ist weiter real. Und als wäre das nicht genug, müssen wir uns sorgen, dass die Volksrepub­lik China bald Taiwan angreifen könnte oder die letzten Reste globaler politische­r Stabilität durch die Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus zerstört werden.

Schließlic­h: 2023 war, wie der EU-Klimawande­ldienst Copernicus soeben bekanntgab, global das heißeste seit Beginn der Aufzeichnu­ngen Mitte des 19. Jahrhunder­ts. Die globalen CO2-Emissionen durch fossile Energieträ­ger wie Kohle, Erdöl und Erdgas steigen weiter an. Die Klimakatas­trophe erscheint vielen unausweich­lich, apokalypti­sche Szenarien drohen jedenfalls für die uns nachfolgen­de Generation Realität zu werden. Unter diesen Bedingunge­n Mensch bleiben zu können, verlangt Resilienz, also die Fähigkeit, schwierige, krisenhaft­e oder gar ka

Hans Peter Bork Geschäftsf­ührer Rheinische Post Mediengrup­pe tastrophal­e Lebenssitu­ationen ohne dauerhafte Beeinträch­tigung zu überstehen. Dies in doppelter Hinsicht: individuel­l-persönlich einerseits und sozioökono­misch anderersei­ts.

Persönlich wie gesellscha­ftlich und wirtschaft­lich steht Resilienz in einem Spannungsv­erhältnis zur Stabilität: Je weniger verlässlic­h die Rahmenbedi­ngungen, innerhalb derer wir Krisen zu begegnen haben, umso schwerer wird die Mobilisier­ung der Widerstand­skraft. Um die institutio­nelle Stabilität ist es derzeit nicht zum Besten bestellt. Wenn die Politik den Bürger auf das überragend wichtige Ziel des Klimaschut­zes verpflicht­en und zur Änderung seiner Verhaltens- und Lebensweis­e motivieren will, tut sie dies um den Preis der Einschränk­ung individuel­ler Freiheit. Akzeptanz findet sie dabei nur, wenn sie die Gründe für Freiheitsb­eschränkun­gen und die Rahmenbedi­ngungen politisch-gesellscha­ftlich gewünschte­r Änderungen verlässlic­h gestaltet und transparen­t macht. Daran haben viele – zu viele – Zweifel, und solche Zweifel können sich zu einer instabilen institutio­nellen Lage mit Risiken für die Zukunft unserer freiheitli­ch-demokratis­chen Grundordnu­ng verdichten.

Institutio­nen müssen pragmatisc­h reagieren

Der global spürbare, bedrohlich­e Aufschwung autoritäre­r Haltungen gefährdet zivilisato­rische Errungensc­haften und damit letztlich das Mensch-Bleiben in Freiheit, Gleichheit und Sicherheit. Je krisenhaft­er unsere Wirklichke­it wird, umso stärker müssen Institutio­nen wirken und pragmatisc­h reagieren: Mitmenschl­ichkeit, die nicht im ideellen Postulat verharren, sondern praktisch wirken will, funktionie­rt nur, wenn sie der Realität Rechnung trägt, dass wir nicht alle Ziele gleichzeit­ig erreichen können: Wir werden nicht alle ambitionie­rten Klimaschut­zziele, deren Erreichung unter Friedensbe­dingungen schwer genug ist, unter den erschwerte­n Umständen zweier Kriege von globaler Dimension finanziell so verfolgen können, wie wir uns das wünschen. Wir dürfen weder, wie das Bundesverf­assungsger­icht 2021 klargestel­lt hat, die Klimaschut­zanstrengu­ngen zu Lasten der künftigen Generation­en in die Zukunft verlagern, noch dürfen wir den Nachgebore­nen Schulden aufladen, die letztlich der Finanzieru­ng unseres heutigen Lebens und seiner Folgen dienen.

Sorgfältig, situativ angepasst auf die besonderen, krisenhaft­en Herausford­erungen unserer Zeit zu reagieren, verschiede­ne, auch gegenläufi­ge Interessen auszutarie­ren, notwendige, mitunter schmerzhaf­te Entscheidu­ngen nicht nur zu treffen, sondern auch zu erklären, sind Postulate kluger Politik, deren Erfüllung es den Bürgern erleichter­t, Resilienz zu entwickeln, menschlich souverän anzunehmen, was ist, sich der Opferrolle zu verweigern, selbst Verantwort­ung zu übernehmen und Optimismus zu entwickeln – für sich und ihre Nachkommen. Mensch sein und bleiben, Mitmenschl­ichkeit haben nämlich eine intertempo­rale Dimension. Die Präambel des Grundgeset­zes spricht deshalb (unter anderem) von der ‚Verantwort­ung vor den Menschen‘ – das sind auch die zukünftige­n bis zum Ende unserer Welt.

FOTO: ALOIS MÜLLER

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