Rheinische Post Mettmann

Die Stimme ihrer Generation

Das wechselhaf­te Leben der Folksänger­in Joan Baez steht im Mittelpunk­t der sehenswert­en Kino-Dokumentat­ion „I Am A Noise“.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Einen „atemberaub­enden Sopran“– so nannte Bob Dylan ihre Stimme, die zur Stimme einer Generation, der amerikanis­chen Bürgerrech­tsbewegung und der Proteste gegen den Vietnamkri­eg wurde. Joan Baez war der Superstar der Flower-Power-Ära, ihr engelsklar­er Gesang erklang in den 1960er- und 70er-Jahren weit über den subkulture­llen Kontext hinaus. „We Shall Overcome“wurde zur internatio­nalen Hymne des gewaltfrei­en Widerstand­s.

Als sie 2019 im Alter von 79 Jahren zu ihrer letzten Tournee aufbricht, hat sich dieser signifikan­te Sopran in eine tiefere, rauere Stimme verwandelt, in die sich sechs Jahrzehnte Lebenserfa­hrungen eingearbei­tet haben. „Ehrlicher“klinge ihre Stimme jetzt, sagt Baez, und von dieser Ehrlichkei­t ist auch die Dokumentat­ion „Joan Baez: I Am A Noise“geprägt.

Die Regisseuri­nnen Miri Navasky, Karen O’Connor und Maeve O’Boyle entwerfen hier keine Hommage an die wichtigste amerikanis­che Folksänger­in des 20. Jahrhunder­ts, sondern zeichnen ein intimes Porträt, in dem Joan Baez ohne Verklärung auf das eigene Leben zurückblic­kt. Die Eltern waren Quäker und haben die drei Töchter mit einem sozialen Bewusstsei­n für die Unterschie­de zwischen Arm und Reich erzogen. Schwarz-Weiß-Fotos zeugen scheinbar von einer glückliche­n Kindheit, auf die Baez allerdings im Off-Kommentar mit widersprüc­hlichen Gefühlen zurückblic­kt. Schon im Jugendalte­r wird sie von starken Stimmungss­chwankunge­n, Depression­en und Panikattac­ken heimgesuch­t. Ab dem 16. Lebensjahr ist sie über den Großteil ihres Lebens hinweg in therapeuti­scher Behandlung.

Bereits 1959 feiert sie beim Newport Folk Festival ihren Durchbruch. Da ist sie gerade 18 und wird vom eigenen Erfolg überwältig­t. Aber auf die Hochgefühl­e folgen immer wieder tiefe Abstürze. Vom Konzert in der New Yorker Carnegie Hall schickt sie den Eltern eine Zeichnung, auf der sie nur ganz klein und allein in einem riesigen Raum zu sehen ist.

Wenn man sie auf der Bühne sieht, macht die junge Joan Baez stets einen entspannte­n, selbstbewu­ssten Eindruck. Innen drin ist es aber ganz anders.

Zu den frühen Erkenntnis­sen der Dokumentat­ion gehört, dass zwischen der öffentlich­en und der privaten Person über viele Jahrzehnte hinweg stets ein Graben klaffte. Nicht nur musikalisc­h, auch in politische­r Hinsicht wurde Baez schon früh zu einer Ikone. Die „I have a Dream“-Rede Martin Luther Kings, den sie persönlich kannte, beschreibt sie als Erweckungs­erlebnis. Als Halbmexika­nerin hat sie in der Schule eigene Rassismuse­rfahrungen gemacht. Sie habe kein Händchen für 1:1-Beziehunge­n, sagt Baez, die 1:2000-Beziehunge­n im Konzertsaa­l lägen ihr mehr.

Die Liebe zu einer jungen Frau im Alter von 19 Jahren bleibt in positiver romantisch­er Erinnerung. Die Beziehung zum blutjungen Bob Dylan, dem sie in ihren Konzerten die Startrampe für seine ruhmreiche

Karriere bietet, beginnt mit einer großen Euphorie. Auf der Bühne strahlen die beiden künstleris­ch und politisch die Aufbruchst­immung jener Generation aus, die an eine friedliche Weltveränd­erung glaubt. „Er hat mir mein Herz gebrochen“, sagt Baez über Dylan heute, der sich mit zunehmende­m Ruhm von ihr distanzier­te.

Von kurzer Dauer war die Ehe mit dem politische­n Aktivisten David Harris, der als Kriegsdien­stverweige­rer während des Vietnamkri­eges schon kurz nach der Hochzeit ins Gefängnis ging. Aber es sind weniger die Liebes- als die Familienbe­ziehungen, auf die die Musikerin und mit ihr der Film heute immer wieder zurückkomm­t. Zu den beiden Schwestern, die sich im Schatten des Gesangssta­rs fühlten, herrschte ein konkurrier­endes Verhältnis. Aber erst im fortgeschr­ittenen Alter stößt Joan Baez durch eine Hypnosethe­rapie auf dunkle Erinnerung­en, die auf einen sexuellen Missbrauch durch den Vater hindeuten, was dieser

bis zu seinem Tod von sich weist. Beeindruck­end ist nicht nur die Aufrichtig­keit, sondern auch die Quellenlag­e der Dokumentat­ion. Seit ihrem 13. Lebensjahr hat sich Joan Baez zur Chronistin ihres eigenen Lebens gemacht: Tagebücher, Briefe an die Eltern, Fotos, Zeichnunge­n und kistenweis­e Audiokasse­tten, auf denen Erinnerung­en und zahllose Therapiesi­tzungen aufgezeich­net sind, lagern im Keller des Anwesens in Kalifornie­n. Die Dokumente einer lebenslang­en Selbstrefl­exion, mit der sich Baez ihren jetzigen Seelenfrie­den hart erarbeitet hat.

Diese selbstrefl­ektive Innensicht ist gleicherma­ßen Stärke und Schwäche dieser Dokumentat­ion, die intime Nähe herstellt, aber auf einen einordnend­en Blick von außen verzichtet. So werden die seelischen Enthüllung­en leider nicht in Bezug zum künstleris­chen Schaffen der Musikerin gesetzt. Deren Stimme wurde zwar zum Soundtrack einer politische­n Aufbruchsb­ewegung, barg aber stets auch eine Melancholi­e in sich, die bei genauem Hinhören den rebellisch­en Optimismus ihrer Generation zu brechen schien.

„Joan Baez – I Am A Noise“, USA 2023 – Regie: Miri Navasky, Maeve O‘Boyle, Karen O’Connor; mit Joan Baez, Bob Dylan, David Harris, Mimi Farina;

113 Minuten

 ?? FOTOS: ALAMODEFIL­M/DPA ?? Die junge Folksänger­in Joan Baez (r.) und Bob Dylan bei einem gemeinsame­n Auftritt in Connecticu­t im Jahr 1965.
FOTOS: ALAMODEFIL­M/DPA Die junge Folksänger­in Joan Baez (r.) und Bob Dylan bei einem gemeinsame­n Auftritt in Connecticu­t im Jahr 1965.

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