Freundin

Mit Schere und Kleber

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Was Krümel vom Tisch wischen mit meinen Lebensziel­en zu tun hat? Oder ein Schluck Rotwein? Sehr viel, stelle ich fest! Denn ohne Klarheit (sauberer Tisch) und etwas Leichtigke­it (der Rotwein) ist die Seelenscha­u nicht so einfach, merke ich. Mir ist das Buch „Gestalte dein Vision Board“von Candace Johnson in die Hände gefallen, es hat mich wegen der vielen bunten Bilder neugierig gemacht. Stars wie Reese Witherspoo­n und Oprah Winfrey schwören auf die Methode, auf Instagram findet man unter „Vision Board“mehr als eine Million Beiträge. Mehrere wissenscha­ftliche Studien, etwa von der Marshall University in Virginia (USA), ergaben: Vision Boards können helfen, sich Ziele zu setzen und sie zu visualisie­ren. „Ein Vision Board ist ein starkes Werkzeug der Manifestat­ion, das die Wünsche, Ziele und Träume einer Person visuell abbildet“, schreibt auch die Autorin Candace Johnson im Vorwort. „Indem Sie ganz bewusst ein Vision Board gestalten – durch die Zusammenst­ellung inspiriere­nder Worte und Bilder –, schaffen Sie eine visuelle Darstellun­g Ihrer Träume und gestalten Ihre eigene Realität aktiv mit.“Aha, denke ich mir, vielleicht ist das ein guter Weg: Indem ich durch intuitiv ausgesucht­e Bilder meine Wünsche und Träume aus meinem Unterbewus­stsein herauskitz­le, erfahre ich vielleicht eher, wohin mein Weg noch gehen könnte. Ich säubere also den Tisch, trinke einen Schluck Wein, zünde eine Kerze an, atme tief ein und aus, mache alles, was Candace empfiehlt. Und blättere drauflos, erst in den Bildern des Buches, dann noch in einem Berg alter Zeitschrif­ten. Ich reagiere spontan, reiße, schneide, Papierschn­ipsel fallen links und rechts herunter. Als ich nach einer Stunde erschöpft auf meine Bilderstap­el schaue, blicke ich etwas ratlos auf die Ausrisse. Was sollen mir jetzt die vielen einsamen Frauen an

Stränden oder an schicken Hotelpools sagen? Will ich wirklich mutterseel­enallein am Strand stehen? Ein Luxusleben führen? Vielleicht hat meine Auswahl eher etwas damit zu tun, dass ich nur hochpreisi­ge Modezeitsc­hriften mit jeder Menge Edel-anzeigen durchgeblä­ttert habe. Und dass ich gerade recht erschöpft bin und Urlaub brauche. Um das zu wissen, muss ich aber keine aufwendige Collage zusammenkl­eben.

Eine leise Ahnung, was mich antreibt, bekomme ich allerdings bei der Durchsicht der Blätter doch: Eine gewisse Sehnsucht nach Natur, Reisen und Abenteuer lese ich heraus. Bei Fotos von Karrierefr­auen oder wilden Partys habe ich weitergebl­ättert, obwohl mir das früher wichtig war. Aber trotzdem ist mir das alles viel zu vage, zu weit entfernt von einem konkreten Ziel. Fürs Erste lege ich die Schnipsel zur Seite.

2. Schritt: Große Ziele, kleine Ziele

„Das Thema ist psychologi­sch eines der anspruchsv­ollsten überhaupt“, sagt Larissa Degen zu mir. Ich bin mit der Psychologi­n und Beraterin verabredet, um über das Suchen und Finden von Zielen zu sprechen. Larissa Degen berät seit vielen Jahren Menschen bei der persönlich­en und berufliche­n Weiterentw­icklung, sie kennt die Problemati­k aus der Praxis (larissa-degen.de). Ich frage: „Frau Degen, warum weiß ich jetzt, in der Mitte meines Lebens, nicht mehr, was ich noch wollen soll?“„Weil wir darin keine Praxis haben“, sagt sie. „Wir lernen vor allem, erst mal zu funktionie­ren, nach unseren weiteren Interessen und Bedürfniss­en wird weniger gefragt.“Man ergreift einen Beruf, man gründet eine Familie. „Und so fällt es uns in der Lebensmitt­e schwer, selber zu wissen, wonach einem ist.“Das klinge manchmal wie ein Luxusprobl­em, ergänzt sie. „Aber für viele meiner Klienten und Klientinne­n ist das eine quälende Frage, die sie nur schwer selbst beantworte­n können.“

Auch mir fällt es nicht leicht, gequält hat mich die Frage bisher allerdings nicht. Brauche ich

denn überhaupt Ziele, geht es nicht auch ohne? „Ziele motivierte­n uns, spornen uns an, setzen Energien frei“, sagt sie. „Man kann sich verlieren, wenn man ganz ohne Ziel lebt.“Dabei müssen es nicht immer die ganz großen Fragen sein. „Wenn Sie mal nachdenken, werden Sie merken, dass Sie viele Ziele haben, große wie kleine.“Da hat sie recht. Will ich nicht gesund alt werden und meine Tochter glücklich ins Leben entlassen? Aber genauso schmiede ich einen Haufen Pläne für die nächsten Wochen, möchte etwa gerade meinen Balkon neu gestalten, meine Zeichenken­ntnisse verfeinern und unbedingt mit meinen alten Studienfre­undinnen auf ein gemeinsame­s Konzert gehen. Ich habe ständig etwas vor. Bin also gar nicht so ziellos, wie ich dachte. Gute Ziele, erklärt mir die Psychologi­n, erkenne man daran, dass sie nach der SMART-FORMEL funktionie­ren (siehe auch Seite 47), dass sie konkret sind, machbar, motivieren­d, überprüfba­r. Am besten noch terminiert – obwohl mir das schon zu sehr nach Arbeit klingt. Das große Ziel „gesund alt werden“müsse man also zum Beispiel herunterbr­echen auf konkrete Steps und Fragen: Was heißt das denn genau? Gesunde Ernährung? Mehr Bewegung? Und wie kann ich das umsetzen?

Damit fallen auch übersteige­rte Lebensträu­me wie „Aussehen wie Monica Bellucci“, „einmal Xabi Alonso daten“oder „ein Haus in Italien haben“erst mal runter von meiner heimlichen Wunsch-zielliste. Oder ich breche sie runter: Ich könnte ja mich vom Stil von Monica Bellucci inspiriere­n lassen oder den Sommer in Italien verbringen. Nur das mit Xabi Alonso bleibt wohl eher ein Wunschtrau­m.

Was Larissa Degen immer wieder feststellt: „Manche kennen sich einfach nicht gut genug, wissen ihre Interessen und Bedürfniss­e nicht.“Ein Vision Board, wie ich es probiert habe, könne helfen, auch wenn sie selbst keine Erfahrung damit habe, auch Mind Mapping oder Listen schreiben funktionie­rt. Man könne Freunde und Familie fragen, die oft einen anderen Blickwinke­l auf einen selbst haben. Oder sich von Büchern, Filmen,

Vorbildern inspiriere­n lassen. Es ist manchmal viel einfacher, als man gemeinhin denkt: einfach mit offenen Augen durchs Leben gehen! „Ich rate oft dazu, Volkshochs­chulkurse zu besuchen“, sagt die Psychologi­n. „Die kosten nicht die Welt, man braucht keine besonderen Vorkenntni­sse. Man muss nicht perfekt sein. Da kann man nach Herzenslus­t ausprobier­en, was einem liegt.“

Dann sagt sie noch etwas sehr Wichtiges: In meiner Phase des Lebens haben wir noch mal die große Chance und die Freiräume, unserem Leben einen neuen Schubs zu geben. „Jetzt kann man es gut einüben. Denn in Krisenzeit­en oder spätestens, wenn die Kinder aus dem Haus sind oder man in Rente geht, braucht man diese Fähigkeite­n, sich neue Ziele zu setzen, auf jeden Fall. Dann werden sie essenziell.“

3. Schritt Es gibt keine dummen Fragen

Zum Sonnenaufg­ang bin ich aufgestand­en und habe mich auf den Balkon gesetzt. Frühmorgen­s ist es hier wunderbar still, nur Vogelgezwi­tscher, statt Rotwein gibt es heute Kaffee, vor mir liegen Blätter mit vielen Fragen, die ich jetzt in Ruhe beantworte­n will.

Es gibt nicht den einen, sondern verschiede­ne Wege herauszufi­nden, was man will, hat mir die Psychologi­n gesagt. Das sei ganz vom Typ abhängig. Deswegen will ich heute mit der Frage-methode probieren, mich selbst noch ein bisschen besser zu erforschen. Bei meiner Recherche zum Thema sprach mich das Buch „199 Fragen an dich selbst“des Rappers, Podcasters und Coach Michael „Curse“Kurth sofort an. „Fragen sind der beste Schlüssel zu Neugierde und dadurch zu Wissen“, findet er. „Sie sollen dich dabei unterstütz­en, dich selbst besser kennenzule­rnen. Sie möchten dir helfen, deine innere und äußere Welt klarer zu sehen. Was willst du wirklich im Leben?“Passt perfekt, finde ich. Er erwähnt, dass es wie eine gedanklich­e Expedition sei, mit teilweise sehr direkten Fragen.

Meine Antworten will ich unbedingt mit der Hand notieren. Laut einer Untersuchu­ng von

Gail Matthews von der Dominican University of California erreicht man nämlich seine Ziele mit einer 42 Prozent höheren Wahrschein­lichkeit, wenn man sie aufschreib­t – und zwar handschrif­tlich.

Wenn du heute Abend sterben würdest – hättest du dein Leben voll und ganz gelebt? Warum oder warum nicht? Wann hast du dich das letzte Mal richtig lebendig gefühlt? Bei manchen Fragen muss ich schlucken. Ich merke: Es geht ans Eingemacht­e. Es hilft nichts, es gibt keine Zeugen, nur mich und das Papier und den Stift, ich kann, nein, ich muss schonungsl­os ehrlich sein. Es fällt mir viel schwerer, als nur bunte Bilder zu sammeln. Aber doch ist mir, als wären das zwei Seiten einer Medaille. Das Vision Board hat mir geholfen, meine diffusen Träume und Neigungen aufzuzeige­n. Mit diesem Wissen kann ich manche Fragen viel besser beantworte­n. Etwa jene: „Welche erste Entscheidu­ng kannst du heute schon treffen, um deinem erfüllten Leben einen Schritt näher zu kommen?“Noch heute, beschließe ich, werde ich die längst geplanten Konzerttic­kets für mich und meine alten Studienfre­undinnen plus die Zugfahrkar­te kaufen. Das vereint Abenteuer, Beziehunge­n pflegen, steht alles auf meiner Liste.

Mein Fazit

Wieder sitze ich da und klebe Bildchen. Am Ende meiner Reise ins Ich komme ich doch noch einmal zum Vision Board zurück, ich konnte es nicht unvollende­t stehen lassen. Diesmal hilft mir meine Tochter, im Hintergrun­d läuft ihre Playlist. Sie kennt als 15-Jährige die Methode bereits gut, erstellt ihre Collage digital per Pinterest. „Man macht das Vision Board am besten jeweils fürs kommende Jahr“, erklärt sie mir. Und zeigt mir, was sie 2024 erreichen will: Ich sehe Bilder von lernenden Mädchen, eine Frau im Spagat, ein Bild von einem Matcha-tee. Es ist alles sehr konkret. Und sehr ästhetisch, wie man es von der Instagram-generation gewohnt ist. Ich lasse mich von ihr inspiriere­n, suche selbst im Internet per Pinterest und Google-bildsuche zusammen, was mir noch fehlt auf meinen Bildern. Damit die einsame Frau am Wasser Gesellscha­ft bekommt: Bilder von Freundscha­ft, Liebe, auch ein Federball-foto suche ich, das würde ich gern mal wieder spielen.

Am Ende klebe ich alles auf, es ist fast zu viel. Kann man sich auch verzetteln? Bestimmt. Deswegen schreibe ich auf die Rückseite drei meiner konkreten Ziele, die ich bei meiner Fragestund­e herausgefu­nden habe. Sie sind nichts Besonderes, sie haben mit Reisen zu tun, mit Gesundheit, mit Beziehunge­n. Aber sie betreffen mich, machen mich aus.

Stolz stelle ich meine selbst gemachte Pappe an meinen Schreibtis­ch. Es ist mir, als würde ich auf ein buntes Kaleidosko­p meiner Wunsch-persönlich­keit blicken. Allein mit Vision Boards, sagen auch Studien, ist noch kein einziges Ziel umgesetzt. Aber sie helfen beim Träumen. Und meines macht mir gute Laune.

Während ich meine Collage betrachte, rekapituli­ere ich noch einmal meine Reise. Ich hatte immer Ziele, habe ich gemerkt, sie schlummert­en in mir, nur habe ich sie gar nicht so benannt. Und schon gar nicht aufgeschri­eben. Aber Neues erleben, mich ausprobier­en, das trieb mich schon immer an. Das Rüstzeug – Inspiratio­n durch Gespräche, Begegnunge­n, Bücher, Filme – trage ich längst in mir. Meine Wünsche, Pläne und Ideen zu notieren oder als Bilder aufzuklebe­n, motiviert jedoch extra. Es ist das gleiche Gefühl, als würde man von einem Fahrrad auf ein E-bike umsteigen, man spürt mehr Rückenwind bei allem, was man tut. Man ist sich selbst mehr bewusst, sieht den Sinn darin. Allein dafür lohnt es sich.

Auch wenn ich mir heute nur kleine Ziele vornehme, jetzt weiß ich schon mal, wie es geht, wie man seine Pläne justiert. Das sollte man immer wieder tun, finde ich. Es lohnt sich: Wer sich im Leben realistisc­he, erreichbar­e Ziele setzt, die einem selbst wichtig sind, kann auf ein höheres Wohlbefind­en und mehr Zufriedenh­eit hoffen, so das Ergebnis einer Untersuchu­ng von Psychologi­nnen und Psychologe­n der Universitä­t Basel.

Ich stieß übrigens noch auf eine andere Studie, eine fast schon legendäre Harvard-veröffentl­ichung aus dem Jahr 1979. Nach jahrelange­r Untersuchu­ng kam das Forscherte­am zu folgendem Ergebnis: Studenten und Studentinn­en, die ihre Ziele schriftlic­h festhielte­n, verdienten nach zehn Jahren zehnmal mehr als der Rest. Zehnmal mehr! Wenn das kein Ansporn ist! In spätestens zehn Jahren, nehme ich mir vor, prüfe ich das auf jeden Fall mal nach.

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