Stich ins Herz
In Großbritannien kommt es rechnerisch 60-mal pro Woche zu Messergewalt. Die Täter und Opfer sind vor allem Minderjährige. Denn unter Teenagern ist die Klinge ein Statussymbol
Elianne Andam und ihre Freundinnen waren auf dem Weg zur Schule. An einer Bushaltestelle in Croydon, einem Vorort von London, kam es aus heiterem Himmel zu einem Streit mit einem Jungen. Elianne versuchte zu schlichten, doch der Teenager zog ein Messer aus dem Hosenbund und stach dem Mädchen mehrere Male in den Hals. Elianne starb noch am Tatort. Sie wurde nur 15 Jahre alt.
Elianne ist eine von 18 Minderjährigen, die im vergangenen Jahr in der britischen Hauptstadt durch ein Messer getötet wurden. Der Tod der Schülerin schockierte die Metropole. Zu einer Gedenkveranstaltung kam sogar der berühmte Rapper Stormzy.
In Großbritannien gehört Messergewalt unter Jugendlichen inzwischen zum Alltag. Sozialarbeiter sprechen von einer Epidemie. Allein in London registrierte die Polizei zwischen Juni 2022 und Juni 2023 mehr als 13 500 Delikte mit Messern oder scharfen Objekten. Das entsprach einem Anstieg von 21 Prozent gegenüber dem vorangegangenen Jahr.
Rechnerisch kommt es zu rund 60 Vorfällen pro Woche, bei denen Minderjährige beteiligt sind. Sogar in Grundschulen tragen Kinder inzwischen Messer mit sich. In England und Wales wurden in einem Jahr fast 500 Schüler unter elf Jahren mit Klingen erwischt. Die Dunkelziffer dürfte noch weitaus höher liegen.
Zwar werden Hunderte neue Polizisten rekrutiert. Doch Streifenbeamte sind kaum noch auf den Straßen unterwegs. In derselben Gegend, in der Elianne Andam starb, wurde vor zwei Jahren schon ein 14-Jähriger während einer Massenschlägerei erstochen. Der Ex-Polizist und heutige Sozialarbeiter Norman Brennan klagt über „gesetzlose Straßen“, in denen Gangs das Sagen haben.
Sind also Drogenbanden schuld an der Gewalt? Konservative
und Sozialdemokraten, unter ihnen Londons Bürgermeister Sadiq Khan, schoben in der Vergangenheit oft der Organisierten Kriminalität die Verantwortung zu. Tatsächlich werben Gangs Jugendliche als Drogenkuriere an und schicken sie als bewaffnete Fußsoldaten in Revierkriege. Eine Mitschuld gab die Politik lange auch dem Partyvolk. Deren Gier nach illegalen Substanzen befeuere die Drogenkriminalität und somit Messerstechereien. Inzwischen zeigen aber Studien der Polizei: Nur fünf Prozent der Messerstraftaten haben mit der Organisierten Kriminalität zu tun. Vielmehr scheint für viele Jugendliche ein Messer so unverzichtbar zu sein wie ein Smartphone. Vor allem männliche Teenager, die schwarzen, asiatischen und anderen ethnischen Minderheiten angehören, vertrauen weder Polizei noch Lehrern. Nur mit dem Messer im Hosenbund fühlen sie sich sicher. Und je länger die Klinge, desto mehr zählt der Mann.
Im Wahlkampf für die am 4. Juli anstehende Parlamentswahl ist die Messerkriminalität Dauerthema. Die noch regierenden Tories wollen Handel, Herstellung und Besitz von Macheten und Zombie-Messern weiter einschränken. Die oppositionelle, aber in den Umfragen führende Labourpartei will noch weiter gehen.
Keir Starmer, ehemaliger Generalstaatsanwalt und möglicher neuer Premier, will Steuermillionen in den Kampf gegen Jugendund Messerkriminalität pumpen.
So sollen Minderjährige, die mehrfach mit einer scharfen Klinge erwischt werden, unter Hausarrest gestellt werden, oder sie müssen Fußfesseln tragen. Auch ist geplant, schneller Haftstrafen bei Delikten zu verhängen. Kritiker wie der Schauspieler Idris Elba befürchten, dass die Kids damit noch tiefer ins kriminelle Milieu abrutschen.
Schon einmal schaffte Großbritannien es, ausufernde Messergewalt einzudämmen. In den 2000er Jahren galt Glasgow als „Mordhauptstadt“Europas. Die Mordrate lag weit über dem Landesschnitt. Polizei-, Gesundheits- und Sozialbehörden starteten eine Aufklärungskampagne. In Jugendzentren und Schulen klärten Opfer, Täter und Notärzte über die Folgen der Bluttaten. Mentoren und Sozialarbeiter kümmerten sich um die Straftäter, halfen bei der Jobsuche und der Reintegration. Innerhalb von zehn Jahren sank die Zahl der Opfer von Messerattacken um 65 Prozent.
Inzwischen tüfteln Forscher der Universität Cambridge zusammen mit Beamten der Londoner Metropolitan Police an KI-Programmen, die Kriminalitätshotspots lokalisieren und Straftaten vorhersagen können. Technologie allein wird jedoch nicht reichen. Eher langfristige und soziale Maßnahmen. Aber bleibt so viel Zeit?
Der jüngste Todesfall liegt erst wenige Tage zurück. Ein 17-Jähriger erstach den ein Jahr jüngeren Kamari Johnson auf dem Heimweg von der Schule. Er ist das 25. Opfer, das seit Beginn des Jahres in London durch eine Klinge zu Tode kam. ■
25 Menschen starben seit Jahresbeginn in London durch einen Angriff mit dem Messer
fassungsschützer rechnen mit etwa 27 000 in Deutschland lebenden Muslimen, die ein „islamistisches Potenzial“aufweisen. Wann aber wird bei wem aus dem trüben Potenzial grausame Wirklichkeit? Wer nimmt, um seine Ziele zu erreichen, ein Messer in die Hand?
Die Nervosität in den Sicherheitsbehörden ist nachvollziehbar. In wenigen Tagen beginnt in Deutschland die Fußball-Europameisterschaft. Dann säumen Menschenmassen die französischen Landstraßen, um den Matadoren der Tour de France zuzujubeln. Bald darauf lädt Paris Millionen Menschen zu den Olympischen Spielen. Die sportlichen Großereignisse könnten Fanatiker als Bühne für ihre Verbrechen nutzen. Und gerade jetzt demonstrierte der Attentäter von Mannheim, wie terroristisches Kalkül funktioniert.
Das sei ein „Albtraum“, stöhnt Sebastian Fiedler, Innenexperte der SPD im Bundestag und ehemaliger Vorsitzender des Bundes der Kriminalbeamten. „Täter, die sich allein radikalisieren und zur Tat schreiten, sind am schwersten zu entdecken.“
Schwer fällt es offenbar auch, nach einem Verbrechen wie dem in Mannheim angemessen zu reagieren. Heroische, aber unverbindliche Hinweise auf ein Gemeinwesen, das sich jetzt verteidigen müsse, werden jedenfalls nicht ausreichen. Auch das Versprechen des Bundesinnenministeriums, die Sicherheitsbehörden würden ihre Aufmerksamkeit nun besonders auf Islamisten richten, wirkt ein wenig hilflos.
Die Union fordert nach Mannheim harte gesetzliche Maßnahmen. Gefährder und Straftäter, die in Deutschland ihre Haftstrafe verbüßt hätten, so erklärte der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, müssten abgeschoben werden. Auch in Länder wie Afghanistan oder Syrien. Die Idee ist nicht neu, gilt aber in Berlin als heikel. Soll ein Rechtsstaat tatsächlich freigelassene Straftäter in Länder verbannen, wo keine Menschenrechte gelten?
Die Parteien der Regierungskoalition denken deshalb statt über härtere Abschieberegeln
lieber über schärfere Waffengesetze nach. Im Januar 2023 hatte Innenministerin Nancy Faeser zwar mehrere Änderungen der einschlägigen Bestimmungen (insbesondere für Handfeuerwaffen) vorgeschlagen. Die FDP jedoch blockiert die Novelle, fordert stattdessen die strikte Anwendung der bestehenden Paragrafen. Irene Mihalic, Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen und gelernte Polizistin, erklärte dem FOCUS, die Regierung müsse sich nun, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, „das Waffenrecht noch mal genauer anschauen“.
Wenn Messer zur Kultur gehören
Hört sich nicht so an, als ob sich im Geschäft von Pavel Sverdlov auf absehbare Zeit etwas ändert. Seit 15 Jahren nun führt er einen Waffenladen in der Berliner Frankfurter Allee. Sverdlov verkauft vor allem „freie“Waffen – die man mit dem Erreichen der Volljährigkeit erwerben kann. Das sind Schreckschusspistolen, Armbrüste und eben auch Messer in diversen Größen und Formen. Sie liegen zu Hunderten in den Vitrinen: mächtige Kampfmesser neben beinahe zierlichen Klappmessern.
Wer Messer kaufe? Sammler und jene, die Messer als Gebrauchsgegenstände nutzen – für die Jagd etwa. Da gebe es, sagt der Waffenhändler, allerdings noch eine dritte Gruppe. Er nennt sie „junge Männer orientalischer Herkunft“. Die wollen ein Messer bei sich führen, weil das zu „ihrer Kultur“gehöre. Manche dieser Männer verlangen nach einer Waffe, die sie zwar kaufen, aber nicht führen dürfen. Sverdlov belehrt sie und verkauft ihnen die gewünschte Waffe. Ob er sich schon mal gegen den Verkauf entschieden habe? Selten. Das sei eine Frage der Eigenverantwortung. „Nicht ich entscheide, ob jemand ein Messer führen darf oder nicht. Sondern das Gesetz.“■