PRAXISNAH nd
Mit uneinsichtigen Diabetikern müssen Ärzte klug verhandeln, weiß Ulrike Koock
Wir müssen dringend Ihre Werte kontrollieren. Ihre Wunde am Fuß kommt von Ihrem Diabetes.“Herr Hinze, ein älterer, resoluter Mann, sitzt auf der Untersuchungsliege. Einer seiner Füße liegt nackt vor mir und weist eine tiefe Wunde an der Unterseite des großen Zehs auf.
Der Patient hatte ein Steinchen im Schuh, das er nicht spürte. Ebenso schmerzt ihn nun die Wunde nicht, typisch für den fortgeschrittenen Diabetes mellitus. Die kleinen und großen Nerven nehmen bei schlecht eingestelltem Blutzucker langfristig Schaden und eine Polyneuropathie kommt ins Spiel. Diese sorgt nicht nur für Schäden an den Füßen, weil Wunden nicht gespürt werden und schlechter heilen. Auch das Herz kann betroffen sein, wodurch ein Diabetiker einen sogenannten stummen Herzinfarkt erleiden kann, der keine Schmerzen bereitet.
So weit ist es bei meinem Patienten bisher nicht gekommen. Aber die Wunde sieht nicht gut aus.
Der gesamte Vorfuß ist gerötet und überwärmt, was für eine sich ausbreitende Entzündung spricht. Die Haut um die Wunde herum ist mazeriert (aufgeweicht), ein süßlicher Geruch strömt mir entgegen.
„Herr Hinze, wir machen einen Abstrich und Sie müssen ein Antibiotikum einnehmen. Außerdem kontrollieren wir die Zuckerwerte!“
„Ach, das mache ich zu Hause doch immer!“, erwidert er. Es wird ihm offenbar zu viel Aufhebens um die Wunde gemacht.
„Und wie hoch ist der Zucker?“, möchte ich wissen.
„Joa, ganz okay. Morgens so 180, aber auch mal 220 nach dem Essen.“
„Das ist zu hoch, Herr Hinze. Wir müssen das Insulin anpassen“, erkläre ich und setze mich an den Computer. Da zuckt er mit den Schultern: „Also so ganz regelmäßig habe ich das Insulin nicht genommen …“
Da muss ich nachhaken. „Haben Sie es manchmal vergessen?“
„Ich nehme es eigentlich nie“, gesteht er. „Bisher ging es mir ja gut.“
Das ist die Krux bei einigen Krankheiten wie Diabetes mellitus Typ 2 oder Bluthochdruck.
Anfangs bereiten sie keine Probleme. Doch zeigen sie ihre Folgen, ist der Drops gelutscht. Dann kann man nur noch Schadensbegrenzung betreiben.
Herrn Hinze kläre ich auf, dass ich ihn zur Kontrolle zum Diabetologen schicken will. Zwar ist die Blutzuckereinstellung auch eine hausärztliche Domäne, bei bereits bestehenden Folgeerscheinungen aber ist der Gang zum Facharzt angeraten. Mein Patient schüttelt den Kopf. „Mein Leben lang leb’ ich hier im Dorf, zum anderen Arzt geh’ ich nicht. Ich gehe sowieso nicht so gerne zu Ärzten.“
Ich denke nach. Schicke ich ihn gegen seinen Willen in die Fachpraxis, wird er nicht hingehen. Also ist dem Mann nur zu helfen, wenn ich ihn überzeugen kann, sich wieder seine abendliche Insulinspritze zu setzen, und wenn ich ihn regelmäßig zur Kontrolle einbestelle.
Also reden wir noch eine Weile. Er zeigt Zustimmung.
„Die abgestorbene Haut sollten wir von Zeit zu Zeit entfernen“, rate ich. Herr Hinze winkt ab. „Das müssen Sie nicht machen, Frau Doktor! Das mache ich daheim. Ich nehm’ so’n Kneipchen, desinfiziere das und zack, schneid’ ich die Haut ab!“
Wer sich außerhalb Hessens fragt, was ein Kneipchen ist: ein kleines Küchenmesserchen, einsetzbar für alles im Haushalt, von Gemüseschneiden über Briefe öffnen bis hin zu Rillen im Kopfsteinpflaster von Moos befreien; und offensichtlich auch für die alltägliche Wundversorgung.