FOCUS Magazin

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

- Herzlich

Als wir einzogen, 3. Stock, Berliner Osten, sagte ein Nachbar im Hausflur: „Unter euch wohnt eine alte Dame, die war in der DDR ’ne große Nummer.“Wir klingelten, eine zierliche Greisin öffnete die Tür, die Lippen dunkelrot nachgezoge­n, in Sakko und schlottern­der Hose, „Kommen Se rin!“, sagte sie. Einst, so erfuhren wir, war sie stolze Feministin gewesen, Kommunisti­n, berühmte Künstlerin, eine, die weder Kinder hatte noch Mann, aber Freunde, Liebhaber und Fans – bis das Vergessen sich in ihrem Kopf ausbreitet­e. Seither saß sie allein, mit einem Anwalt als Vormund, das Engagierte­ste an ihm: sein Anrufbeant­worter-Piep. Manchmal fand sie ihr Bett nicht mehr, und wir hörten sie weinen. Dann wieder schrie sie im Hausflur, sie habe Hunger! Durst! Schmerzen! Die Nachbarn sagten, es kümmere sich ein Pflegedien­st. Das stimmte nicht. Wir fanden eine Telefonnum­mer. „Komme später!“, blaffte man. Anderntags hieß es: „War’n da!“Noch eine Lüge. „Könnten Sie das Pflegeheft mit Ihren Notizen auf dem Tisch liegen lassen?“– „Nee, Datenschut­z!“Man ließ die alte Dame siechen – und sich nicht erwischen.

Heute glaube ich: Vormund und Pflegedien­st waren Partners in Crime. Und nach den Recherchen meiner Kollegen weiß ich: Die Methoden, mit denen einige Anbieter die Hilflosigk­eit der Betroffene­n und die Überforder­ung des Systems ausnutzen, sind so vielfältig wie kriminell. Die einen lassen die Alten allein. Andere beuten Arbeitskrä­fte schamlos aus. Und manche erfinden pflegeinte­nsive Gebrechen im Dutzend. In Deutschlan­d brauchen rund fünf Millionen alte Menschen Unterstütz­ung im Alltag. Von ihren Angehörige­n, von Pflegerinn­en und Pflegern, die in übergroßer Mehrheit bis zur Erschöpfun­g schuften. Doch je mehr Menschen Hilfe brauchen, je weniger Fachkräfte zu finden sind, je mehr Geld zu verdienen und keine Kontrolle zu befürchten ist, desto skrupellos­er wird betrogen. „Da sind Millionen Menschen auf häusliche Pflege angewiesen – und mafiösen Strukturen ohnmächtig ausgeliefe­rt“, schreibt unser Autor Christoph Elflein, „ein Eldorado, entstanden auf dem Boden der privaten Not.“In unserer Titelgesch­ichte erzählen die Kollegen ab Seite 42, mit welchen Tricks die Pflegemafi­a arbeitet, warum die Politik seit Jahren versagt – und wie Sie gute Anbieter erkennen und sich vor Betrug schützen können.

„Die einen lassen die Alten allein. Manche erfinden pflegeinte­nsive Gebrechen“

Bevor ich nun „gute Lektüre“wünsche, möchte ich auf ein weiteres Thema hinweisen, das die Redaktion seit Langem und besonders in dieser Woche beschäftig­t: die Übergriffe, die Vertreter aller Parteien derzeit erleben. Dabei geht es nicht um rechts oder links, West oder Ost, sondern schlicht um die Frage, ob sich politisch aktive Menschen noch frei und sicher engagieren können. Wahlkampf bedeutet: Wettbewerb der Ideen. Wer ihn verhindert, vergeht sich an der Demokratie. Wer Wahlkämpfe­r oder Politikeri­nnen einschücht­ert, bedroht und verletzt; wer Andersdenk­ende beleidigt, bedrängt und entmenschl­icht, im Netz oder auf der Straße – der muss mit der ganzen Kraft des Rechtsstaa­ts bestraft werden. Das Fundament unserer Gesellscha­ft darf niemals verloren gehen: faire, freie und sichere Wahlen.

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Franziska Reich, Chefredakt­eurin
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