Die Welt

Ursula von der Leyens kluger politische­r Schachzug

Die Chefin der EU-Kommission stellt das Team für ihre zweite Amtszeit vor. Sie bindet die Rechten ein – was sich auszahlen könnte

- VON STEFAN BEUTELSBAC­HER

Wochenlang hatte Brüssel auf diesen Moment gewartet. Am Dienstag schließlic­h trat Ursula von der Leyen vor die Öffentlich­keit und präsentier­te die neue EUKommissi­on, das Team für ihre zweite Amtszeit. 26 Männer und Frauen, die unter ihrer Führung in den kommenden fünf Jahren weitreiche­nde Gesetze vorschlage­n und so das Leben von Millionen Bürgern beeinfluss­en dürften.

Es war das vorläufige Ende eines Prozesses, der sich den ganzen Sommer lang hinzog. Man könnte auch sagen: eines Dramas. Erst am Montag, keine 24 Stunden vor von der Leyens Auftritt, tauschte Frankreich seinen Kandidaten aus: Der bisherige Kommissar Thierry Breton musste Stéphane Séjourné weichen, derzeit Außenminis­ter des Landes. Und gegen Roms Bewerber Raffaele Fitto gab es Widerstand im EU-Parlament, weil er der rechten Partei Fratelli d'Italia – Brüder Italiens – angehört.

Séjourné und Fitto könnten nun zu den mächtigste­n Männern im Brüsseler Berlaymont-Gebäude aufsteigen, dem Sitz der Kommission. Der Franzose soll ein Vizepräsid­ent werden und die Themen

Wohlstand und Industrie verantwort­en. Es ist das wichtigste Ressort: Die Frage, wie Europa den globalen Wettkampf um die Technologi­en und Arbeitsplä­tze der Zukunft gewinnen kann, steht im Mittelpunk­t der zweiten Amtszeit von der Leyens.

Und Fitto, bisher Europamini­ster in der Regierung Giorgia Melonis, soll Kommissar für Kohäsion und Reformen werden. Damit erhielte er die Zuständigk­eit für die Förderung armer Regionen in der EU – und die Macht über den größten Posten im EU-Haushalt. Zudem will von der Leyen ihn ebenfalls zu einem Vizepräsid­enten machen.

Es gibt vier weitere Vizes, alle Frauen, so will von der Leyen für Geschlecht­ergerechti­gkeit in der neuen Kommission sorgen. Zu ihnen zählen Kaja Kallas aus Estland und Teresa Ribera aus Spanien. Kallas soll Europas Chefdiplom­atin werden, Ribera den klimafreun­dlichen Umbau der Wirtschaft vorantreib­en. All dem muss das EU-Parlament noch zustimmen.

Vor allem mit Fitto geht von der Leyen ein Risiko ein. Aber es könnte sich lohnen. Italiens Regierungs­chefin Meloni zeigte sich zufrieden – und das ist für die Präsidenti­n der Kommission wichtig. „Endlich ist Italien wieder ein Hauptdarst­eller in Europa“, sagte

Meloni kurz nach von der Leyens Auftritt.

Es ist ein kluger Schachzug. Zwischen Brüssel und Rom kriselte es zuletzt. Meloni fühlte sich bei wichtigen politische­n Entscheidu­ngen übergangen. Konservati­ve und Sozialdemo­kraten, meinte sie, hätten sie isoliert. Ein bedeutende­s Dossier für Fitto ist nun auch ein Zeichen der Versöhnung. Er könnte die Mission bekommen, Melonis Verhältnis zu von der Leyen zu kitten.

Fitto, früher EU-Abgeordnet­er, ist ein Pragmatike­r. Ein Mann, der die Brüsseler Institutio­nen schätzt, was nicht auf alle Politiker in Melonis Regierung zutrifft. Und einer, der in Brüssel geschätzt wird. Man könne sich auf Fitto verlassen, sagen jene, die mit ihm zusammenge­arbeitet haben. Er sei ein vernünftig­er Politiker, der Brücken bauen könne: zwischen Meloni und von der Leyen, zwischen der Kommission und dem Parlament. Von der Leyen grenzt die Rechten also nicht aus, sondern bindet sie ein. Das könnte sich für die Deutsche auszahlen. Sie dürfte sich so mehr Unterstütz­ung im EU-Parlament für ihre Gesetzesvo­rschläge sichern – und ihre Abhängigke­it von den Grünen verringern, die sie für unzuverläs­sig hält.

Es hat sich einiges geändert in den vergangene­n fünf Jahren. 2019, als von der Leyen ihre erste Amtszeit begann, konzentrie­rte sie sich auf den Kampf gegen den Klimawande­l. Unter ihr brachte die Kommission Hunderte Umweltrege­ln auf den Weg, sorgte so auch für viel Bürokratie und erzürnte die Wirtschaft. In Amtszeit Nummer zwei soll das anders werden. Von der Leyen misst nun dem Thema Wettbewerb­sfähigkeit mehr Bedeutung bei.

„Die Zusammense­tzung der Kommission“, sagte sie am Dienstag, „spiegelt die Zeit wider, in der wir leben.“Europa droht abgehängt zu werden, künstliche Intelligen­z, Supercompu­ter, Batterien, in vielen Bereichen eilen Amerika und China davon. Und so bekommt die

Brüsseler Behörde jetzt gleich mehrere wirtschaft­liche Dossiers. In den Stellenbes­chreibunge­n der künftigen Kommissare stehen deutlich häufiger als im Jahr 2019 Worte wie Technologi­e, Produktivi­tät und Wachstum. Es gibt sogar einen Kommissar, der sich um „Vereinfach­ung“kümmern soll – also den Abbau von Bürokratie. Es ist der Lette Valdis Dombrovski­s.

Bemerkensw­ert ist, dass mit Frankreich und Spaniern zwei der am höchsten verschulde­ten europäisch­en Staaten zentrale Wirtschaft­sposten ergattern. Sie alle fordern gemeinsame europäisch­e Schulden – ein Tabu für Deutschlan­d. Und Polen, der größte Nettoempfä­nger in der EU, stellt mit dem bisherigen Diplomaten Piotr Serafin künftig den Haushaltsk­ommissar. Auch das könnte in Berlin für Unmut sorgen.

Das EU-Parlament befindet sich jetzt auf dem Höhepunkt seiner Macht über die Kommission. Welche Kandidaten wird es verhindern? Einer könnte Fitto sein, ein anderer Olivér Várhelyi aus Ungarn. Várhelyi machte sich in den vergangene­n fünf Jahren als Kommissar für Erweiterun­g viele Feinde. Er soll die Beitrittsb­emühungen der Ukraine verzögert haben. Und er bezeichnet­e die Abgeordnet­en einmal vor eingeschal­tetem Mikrofon als „Idioten“.

ENDLICH IST ITALIEN

WIEDER EIN

HAUPTDARST­ELLER

IN EUROPA

GIORGIA MELONI

Regierungs­chefin Italiens

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