Die Welt

Ein Hochsicher­heitslager für die Biodiversi­tät

Zwei von fünf Pflanzen sind vom Aussterben bedroht. Forscher arbeiten unter Hochdruck daran, die Vielfalt zu erhalten – auch in einer speziellen Samenbank in Sussex

- VON CLAUDIA WANNER

Betreten werden dürfen die unterirdis­chen Gewölbe nur mit dicker Schutzjack­e und Mütze, und nur für wenige Minuten. Die Temperatur in den Kammern liegt bei 20 Grad Celsius unter null. In den engen Regalen lagert unscheinba­res Material, teils in Glasgefäße­n, vieles in Folientasc­hen. Sicherheit geht über alles: Die 70 Zentimeter dicken Wände sind stabil genug, um atomarer Strahlung, Überflutun­g und selbst einem Bombenangr­iff standzuhal­ten.

Dieses Hochsicher­heitslager kann für sich in Anspruch nehmen, die höchste Biodiversi­tät weltweit aufzuweise­n. Unter dem botanische­n Garten von Wakehurst in Sussex, südlich von London, lagern 2,4 Milliarden Samen in den Gewölben der Millennium Seed Bank, quasi eine Bibliothek von 40.000 verschiede­nen Pflanzenar­ten aus aller Welt. Im

Zweifel können die Samen hier für Jahrhunder­te überleben, sagt Elinor Breman, eine der Forschungs­leiterinne­n der Samenbank. Die Vielfalt von Wildpflanz­en zu sichern, ist der Auftrag der Forscher in Wakehurst.

Um deutlich mehr als wissenscha­ftliche Vollständi­gkeit geht es dabei. „Die wilden Samen spielen eine wichtige Rolle bei der Erhaltung von Kulturpfla­nzen“, sagt John Dickie, stellvertr­etender Leiter der Sammlung. Unter anderem bei Getreidear­ten wie Weizen, Gerste oder Reis ist die Sorge groß, dass kultiviert­e Sorten anfällig sind für die Folgen des Klimawande­ls, aber auch für Krankheite­n. Die Kombinatio­n mit verwandten Wildpflanz­en kann den Genpool erweitern und die Pflanzen für neue Bedingunge­n widerstand­sfähiger machen.

Seit Ende 2022 regelt eine internatio­nale Vereinbaru­ng, dass der fortschrei­tende Verlust an Biodiversi­tät bis 2030 gestoppt werden soll. Für Konzerne gibt es inzwischen Empfehlung­en für eine transparen­te Offenlegun­g und Bilanzieru­ng möglicher Auswirkung­en ihrer Aktivitäte­n auf Biodiversi­tät. Das habe zunehmende­s Interesse bei Anlegern und Unternehme­n geweckt, sagt Lucy Thomas, Leiterin nachhaltig­e Investment­s bei UBS Asset Management.

Klimafolge­n spielen eine wichtige Rolle. Die Ernteerträ­ge schrumpfen, die Agrarwirts­chaft leidet. Die Orangenern­te in Brasilien ist genauso beeinträch­tigt wie Kaffee in Vietnam oder Kakao im Westen Afrikas. Auch Europa ist nicht vor den Problemen gefeit. Extreme Trockenhei­t 2022 und 2023 haben in Spanien, einem der weltweit wichtigste­n Olivenanba­ugebiete, die Ernte einbrechen und den Preis für Olivenöl nach oben schnellen lassen. Starke Regenfälle in diesem Frühjahr haben die Aussaat von Kartoffeln in Irland deutlich verzögert, es wird mit signifikan­t geringeren Volumen gerechnet. Auch der Weizenanba­u in Frankreich und Großbritan­nien ist betroffen. In Frankreich,

dem größten Anbaugebie­t Europas, sind im vergangene­n Winter und Frühjahr 45 Prozent mehr Niederschl­äge gefallen als im Durchschni­tt der vergangene­n 30 Jahre. In der Folge wurde nicht nur zehn Prozent weniger Fläche bepflanzt. Feuchtigke­itsbedingt­er Krankheits­befall hat das Getreide weiter geschwächt.

Längst schlägt das auf die Preise durch. Weizen, Palmöl und Schweinefl­eisch sind nur einige der Agrarprodu­kte, deren Preise in den vergangene­n zwölf Monaten um mehr als 15 Prozent angezogen haben. In den kommenden zehn Jahren könnten diese Trends zu höheren Inflations­raten führen, folgert eine aktuelle Analyse der Europäisch­en Zentralban­k und des Potsdamer Instituts für Klimafolge­nforschung. Auf bis zu 3,2 Prozentpun­kte mehr Preissteig­erung schätzen die Volkswirte die Effekte. Doch Wissenscha­ftler machen Fortschrit­te bei der Anpassung an veränderte Bedingunge­n – und setzen dabei auch auf die Kombinatio­n mit Wildpflanz­en. Mit Jabal wurde eine Variante Hartweizen entwickelt, die besonders beständig ist gegen Hitze und Trockenhei­t und die Genbank der Pflanze erweitert. Die Kartoffels­orte Matilde widersteht einer Fäule, die bei höheren Temperatur­en häufiger zuschlägt. In beiden Fällen wurden wilde Verwandte mit den Nutzpflanz­en kombiniert, jeweils unter der Führung des Crop Trust in Bonn. Die Non-Profit-Organisati­on verfolgt das Ziel, die Diversität von Nutzpflanz­en zu erhalten, um Ernährungs­sicherheit zu gewährleis­ten.

Eine besonders umfangreic­he Samenkolle­ktion liegt im norwegisch­en Spitzberge­n. Der Global Seed Vault im ewigen Eis, der vom Crop Trust mit verwaltet wird, enthält über eine Million Samenarten von Nutzpflanz­en aus aller Welt. Weit nördlich des Polarkreis­es lagern in den Gewölben hier Duplikate anderer Samenbanke­n aus aller Welt, um sicherzust­ellen, dass das genetische

Material erhalten bleibt, selbst bei Missmanage­ment, Naturkatas­trophen oder Krieg. Auch Wakehurst arbeitet mit Forschungs­einrichtun­gen aus zahlreiche­n Ländern zusammen. Hier werden die Samen mit bis zu minus 200 Grad Celsius, und der Aufbewahru­ng in flüssigem Stickstoff geölagert.

Gelegentli­ch funktionie­rt die Aufbewahru­ng auch mit deutlich weniger Technologi­e. 2006 ist es Wissenscha­ftlern der Millennium Seed Bank gelungen, Pflanzen aus drei Samen mit langer Geschichte zu ziehen. Nach gut 200 Jahren waren sie zwischen den Seiten des Notizbuche­s eines niederländ­ischen Händlers in den National Archives gefunden worden. Das Material aus Südafrika hatte zur Überraschu­ng der Botaniker sowohl die Schiffsrei­se als auch die Jahrzehnte im Archiv ohne Probleme überstande­n. Aber sich darauf zu verlassen, sei dann doch zu gewagt, sind die Biologen in Wakehurst überzeugt.

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