Ein Hochsicherheitslager für die Biodiversität
Zwei von fünf Pflanzen sind vom Aussterben bedroht. Forscher arbeiten unter Hochdruck daran, die Vielfalt zu erhalten – auch in einer speziellen Samenbank in Sussex
Betreten werden dürfen die unterirdischen Gewölbe nur mit dicker Schutzjacke und Mütze, und nur für wenige Minuten. Die Temperatur in den Kammern liegt bei 20 Grad Celsius unter null. In den engen Regalen lagert unscheinbares Material, teils in Glasgefäßen, vieles in Folientaschen. Sicherheit geht über alles: Die 70 Zentimeter dicken Wände sind stabil genug, um atomarer Strahlung, Überflutung und selbst einem Bombenangriff standzuhalten.
Dieses Hochsicherheitslager kann für sich in Anspruch nehmen, die höchste Biodiversität weltweit aufzuweisen. Unter dem botanischen Garten von Wakehurst in Sussex, südlich von London, lagern 2,4 Milliarden Samen in den Gewölben der Millennium Seed Bank, quasi eine Bibliothek von 40.000 verschiedenen Pflanzenarten aus aller Welt. Im
Zweifel können die Samen hier für Jahrhunderte überleben, sagt Elinor Breman, eine der Forschungsleiterinnen der Samenbank. Die Vielfalt von Wildpflanzen zu sichern, ist der Auftrag der Forscher in Wakehurst.
Um deutlich mehr als wissenschaftliche Vollständigkeit geht es dabei. „Die wilden Samen spielen eine wichtige Rolle bei der Erhaltung von Kulturpflanzen“, sagt John Dickie, stellvertretender Leiter der Sammlung. Unter anderem bei Getreidearten wie Weizen, Gerste oder Reis ist die Sorge groß, dass kultivierte Sorten anfällig sind für die Folgen des Klimawandels, aber auch für Krankheiten. Die Kombination mit verwandten Wildpflanzen kann den Genpool erweitern und die Pflanzen für neue Bedingungen widerstandsfähiger machen.
Seit Ende 2022 regelt eine internationale Vereinbarung, dass der fortschreitende Verlust an Biodiversität bis 2030 gestoppt werden soll. Für Konzerne gibt es inzwischen Empfehlungen für eine transparente Offenlegung und Bilanzierung möglicher Auswirkungen ihrer Aktivitäten auf Biodiversität. Das habe zunehmendes Interesse bei Anlegern und Unternehmen geweckt, sagt Lucy Thomas, Leiterin nachhaltige Investments bei UBS Asset Management.
Klimafolgen spielen eine wichtige Rolle. Die Ernteerträge schrumpfen, die Agrarwirtschaft leidet. Die Orangenernte in Brasilien ist genauso beeinträchtigt wie Kaffee in Vietnam oder Kakao im Westen Afrikas. Auch Europa ist nicht vor den Problemen gefeit. Extreme Trockenheit 2022 und 2023 haben in Spanien, einem der weltweit wichtigsten Olivenanbaugebiete, die Ernte einbrechen und den Preis für Olivenöl nach oben schnellen lassen. Starke Regenfälle in diesem Frühjahr haben die Aussaat von Kartoffeln in Irland deutlich verzögert, es wird mit signifikant geringeren Volumen gerechnet. Auch der Weizenanbau in Frankreich und Großbritannien ist betroffen. In Frankreich,
dem größten Anbaugebiet Europas, sind im vergangenen Winter und Frühjahr 45 Prozent mehr Niederschläge gefallen als im Durchschnitt der vergangenen 30 Jahre. In der Folge wurde nicht nur zehn Prozent weniger Fläche bepflanzt. Feuchtigkeitsbedingter Krankheitsbefall hat das Getreide weiter geschwächt.
Längst schlägt das auf die Preise durch. Weizen, Palmöl und Schweinefleisch sind nur einige der Agrarprodukte, deren Preise in den vergangenen zwölf Monaten um mehr als 15 Prozent angezogen haben. In den kommenden zehn Jahren könnten diese Trends zu höheren Inflationsraten führen, folgert eine aktuelle Analyse der Europäischen Zentralbank und des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung. Auf bis zu 3,2 Prozentpunkte mehr Preissteigerung schätzen die Volkswirte die Effekte. Doch Wissenschaftler machen Fortschritte bei der Anpassung an veränderte Bedingungen – und setzen dabei auch auf die Kombination mit Wildpflanzen. Mit Jabal wurde eine Variante Hartweizen entwickelt, die besonders beständig ist gegen Hitze und Trockenheit und die Genbank der Pflanze erweitert. Die Kartoffelsorte Matilde widersteht einer Fäule, die bei höheren Temperaturen häufiger zuschlägt. In beiden Fällen wurden wilde Verwandte mit den Nutzpflanzen kombiniert, jeweils unter der Führung des Crop Trust in Bonn. Die Non-Profit-Organisation verfolgt das Ziel, die Diversität von Nutzpflanzen zu erhalten, um Ernährungssicherheit zu gewährleisten.
Eine besonders umfangreiche Samenkollektion liegt im norwegischen Spitzbergen. Der Global Seed Vault im ewigen Eis, der vom Crop Trust mit verwaltet wird, enthält über eine Million Samenarten von Nutzpflanzen aus aller Welt. Weit nördlich des Polarkreises lagern in den Gewölben hier Duplikate anderer Samenbanken aus aller Welt, um sicherzustellen, dass das genetische
Material erhalten bleibt, selbst bei Missmanagement, Naturkatastrophen oder Krieg. Auch Wakehurst arbeitet mit Forschungseinrichtungen aus zahlreichen Ländern zusammen. Hier werden die Samen mit bis zu minus 200 Grad Celsius, und der Aufbewahrung in flüssigem Stickstoff geölagert.
Gelegentlich funktioniert die Aufbewahrung auch mit deutlich weniger Technologie. 2006 ist es Wissenschaftlern der Millennium Seed Bank gelungen, Pflanzen aus drei Samen mit langer Geschichte zu ziehen. Nach gut 200 Jahren waren sie zwischen den Seiten des Notizbuches eines niederländischen Händlers in den National Archives gefunden worden. Das Material aus Südafrika hatte zur Überraschung der Botaniker sowohl die Schiffsreise als auch die Jahrzehnte im Archiv ohne Probleme überstanden. Aber sich darauf zu verlassen, sei dann doch zu gewagt, sind die Biologen in Wakehurst überzeugt.