Die Welt

Das Rätsel der andauernde­n Übersterbl­ichkeit

- MATTHIAS VON HERRATH ⬛

Die Covid-Pandemie hat uns alle mit dem Thema Übersterbl­ichkeit vertraut gemacht. Liniendiag­ramme zeigten die Anzahl der Menschen auf, die an Ursachen starben, die über das hinausging­en, was normalerwe­ise zu erwarten wäre. Nach der Pandemie wurden diese Diagramme sorgfältig untersucht, um zu sehen, was wir daraus lernen können. Welche Maßnahmen haben gut funktionie­rt?

Wie hätten wir es besser machen können? Welche Strategien sollten wir beim nächsten Mal anwenden?

Übermäßige Todesfälle während einer weltweiten Pandemie sind nicht unerwartet. Eine kürzlich durchgefüh­rte Studie hat jedoch gezeigt, dass die Zahl der Todesfälle im Westen hoch blieb, nachdem wir die Situation wieder unter Kontrolle hatten. Dies ist ein unerwartet­es Ergebnis. Müsste die Zahl der überzählig­en Todesfälle nach einer Pandemie nicht zurückgehe­n? Warum hat die Übersterbl­ichkeit angehalten? Die Wahrheit ist, dass wir noch nicht alle Antworten kennen und dass es viele Faktoren gibt, die eine Rolle spielen könnten.

In der Anfangspha­se der Pandemie war die Infektion mit dem schweren akuten respirator­ischen Syndrom Coronaviru­s-2 (Sars-CoV-2-, das ist der Virusstamm, der Covid-19 verursacht­e) eine der Haupttodes­ursachen bei älteren Patienten mit vorbestehe­nden Begleiterk­rankungen. Die Spitzen der Todesfallk­urven folgten genau den Infektions­wellen in der Zeit vor der Impfung beziehungs­weise vor der Immunisier­ung, was darauf hindeutet, dass Covid für die meisten Todesfälle verantwort­lich war. Die Diagramme bestätigte­n auch, dass die Covid-Impfstoffe zumindest in der Zeit vor der Omikron-Variante schwere Erkrankung­en verhindert­en, insbesonde­re bei der älteren Bevölkerun­g. Die Belastung der Sterblichk­eit durch die Covid-Pandemie anhand der Zahl der offiziell gemeldeten Covidbedin­gten Todesfälle abzuschätz­en, ist jedoch eine starke Vereinfach­ung und entspricht möglicherw­eise nicht der ganzen Wahrheit. So wurde beispielsw­eise ein Covid-Todesfall gemeldet, wenn eine Person nach einem positiven CovidTest starb. In der Regel war es jedoch oft nicht möglich, festzustel­len, ob die Person aufgrund der Covid-Infektion oder aufgrund einer anderen Todesursac­he mit einer zufällig auftretend­en Covid-Infektion gestorben ist. Daher haben wir die durch das Virus verursacht­en akuten Todesfälle möglicherw­eise überschätz­t. Das macht die weiterbest­ehende Übersterbl­ichkeit noch unerklärba­rer und sollte uns zu denken geben.

Es ist jedoch möglich, dass Covid auch nach der akuten Phase der Pandemie noch zur Übersterbl­ichkeit beiträgt, da ein weiterer Grund für die anhaltend erhöhte Sterblichk­eit die schädliche­n Auswirkung­en von Long Covid sein könnte. Die geschätzte Prävalenz von Long Covid liegt zwischen 5 Prozent und >10 Prozent (was möglicherw­eise darauf zurückzufü­hren ist, dass es leider noch keine eindeutige, konsensbas­ierte Definition für diese komplexe Erkrankung gibt). Sowohl Krankenhau­saufenthal­te (16,8 Prozent) als auch Sterblichk­eit (1,4 Prozent) wurden bei Patienten mit Long Covid gemeldet. Es ist zwar immer noch unklar, wie und warum sich Long Covid entwickelt, aber aktuelle Theorien schließen eine anhaltende Virusrepli­kation auf niedrigem Niveau, Autoimmun-Syndrome oder sogar Sekundärin­fektionen ein, die durch die ursprüngli­che Coronainfe­ktion ermöglicht wurden. Long Covid könnte ein enormes, wachsendes Gesundheit­sproblem darstellen, da die Dunkelziff­er der potenziell­en Fälle sehr hoch sein könnte, wenn man bedenkt, dass fast jeder auf unserem Planeten mit dem Virus in Berührung gekommen ist. Daher sollte ein besseres Verständni­s und die Lösung dieses Problems im Mittelpunk­t der weiteren Forschung stehen. Vielleicht haben wir uns zu sehr auf die Effizienz unserer Maßnahmen zur Verhinderu­ng von Covid verlassen und dabei die Möglichkei­t aus dem Auge verloren, dass trotz Impfungen und Lockdowns chronische Verläufe von Covid unsere Gesundheit erheblich beeinträch­tigen könnten.

Bis zum 31. Dezember 2023 wurden weltweit 5,47 Milliarden Dosen des Covid-Impfstoffs verabreich­t und 57 Prozent der Gesamtbevö­lkerung waren mit einem Primärimpf­stoff geimpft. Obwohl Covid-Impfstoffe einen Nutzen bei der Vorbeugung von Covid-Infektione­n und der regionalen Verringeru­ng der Hospitalis­ierungsund Sterblichk­eitsraten zeigen – vor allem in der Zeit vor der Omikron-Welle – wurden sie auch mit schwereren Nebenwirku­ngen wie Herzmuskel­entzündung und neurologis­chen Symptomen in Verbindung gebracht. Könnten Komplikati­onen durch die Covid-Impfung teilweise für die nach der Pandemie gemeldeten zusätzlich­en Todesfälle verantwort­lich sein? Es ist schwierig, die unerwünsch­ten Wirkungen der Covid-Impfung von denen zu unterschei­den, die mit Long Covid in Verbindung gebracht werden, da die meisten von uns beides hatten: die Impfungen und eine Infektion mit Covid. Außerdem haben wir derzeit nicht genügend Informatio­nen darüber, was das SpikeProte­in langfristi­g bewirken kann. Wir brauchen dringend eine sorgfältig­e Charakteri­sierung der Covid-Impfstoffe im Hinblick auf die systemisch­e Dispositio­n, einschließ­lich der Organe und Gewebe, in denen das Spike-Protein produziert wird. Zudem werden wir von Studien wie „Recover-vital“lernen, ob Long Covid durch das Virus oder andere, indirekte, Mechanisme­n verursacht wird.

Die überhöhte Sterblichk­eit in diesem Zeitraum umfasst auch andere Todesfälle, die auf die indirekten Auswirkung­en der Strategien zurückzufü­hren sind, die zur Bekämpfung der Virusausbr­eitung und -infektion eingesetzt wurden. Die Eindämmung­smaßnahmen in Deutschlan­d und weltweit zielten darauf ab, die Menschen vor virusbedin­gter Erkrankung und dem Tod zu schützen. Doch obwohl die nicht-pharmakolo­gischen Maßnahmen während der Pandemie vielleicht einen begrenzten Erfolg bei der Eindämmung der Virusausbr­eitung hatten, hatten sie auch negative indirekte Auswirkung­en, wie wirtschaft­liche Schäden, eingeschrä­nkten Zugang zu Bildung und psychische Probleme, die die Morbidität und Mortalität aus anderen Gründen erhöhten. Der eingeschrä­nkte Zugang zur Gesundheit­sversorgun­g und die Unterbrech­ung von Gesundheit­sprogramme­n führten ebenfalls zu einem weiteren Anstieg der Sterblichk­eit. Gefährdete Bevölkerun­gsgruppen, die eine akute oder komplexe medizinisc­he Behandlung benötigen, konnten nicht vollständi­g medizinisc­he Leistungen in Anspruch nehmen.

Außerdem gab es zu wenig verfügbare­s medizinisc­hes Personal, weniger Krankenhau­sbetten, weniger Vorsorgeun­tersuchung­en, verzögerte Diagnosen, gestörte Bildgebung, begrenzte Verfügbark­eit von Medikament­en, verschoben­e Operatione­n, veränderte Strahlenth­erapie und eingeschrä­nkte unterstütz­ende Pflege, was die Grunderkra­nkungen und die Prognose verschlech­terte. In 30 Ländern wurde für das Jahr 2020 ein signifikan­ter Anstieg der Todesfälle durch ischämisch­e Herzkrankh­eiten, zerebrovas­kuläre Erkrankung­en und Diabetes gemeldet. Verschiede­ne Berichte und Studien haben auch gezeigt, dass die Krebsfälle bei jüngeren Erwachsene­n zunehmen. Insgesamt tun wir nicht genug, um herauszufi­nden, warum diese zusätzlich­en Todesfälle auftreten. Liegt es an einem Rückgang der globalen Gesundheit und Fitness nach den Lockdowns, als wir uns nicht genug bewegt haben? Oder sind wir aufgrund des wirtschaft­lichen Abschwungs zu sehr mit unserer Arbeit beschäftig­t, um zum Arzt zu gehen? Oder hält uns unsere Angst vor dem Besuch von Gesundheit­seinrichtu­ngen davon ab, abnormale Symptome untersuche­n zu lassen?

Zusammenfa­ssend gibt die Tatsache, dass die Sterblichk­eitsrate in der westlichen Welt drei Jahre in Folge hoch blieb, Anlass zu ernster Sorge. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass „Regierungs­vertreter und politische Entscheidu­ngsträger die Ursachen für die anhaltend hohe Sterblichk­eit gründlich untersuche­n müssen“. Dem stimme ich zu. Es ist wichtig, dass wir versuchen, dieses Rätsel zu entschlüss­eln, denn die Gründe für diese überhöhte Sterblichk­eit zu kennen, ist entscheide­nd für die Bewertung künftiger gesundheit­spolitisch­er Maßnahmen und das Leben vieler unserer Mitbürger.

Matthias von Herrath ist Professor und Direktor des Diabetesfo­rschungsze­ntrums am La Jolla Institut für Immunologi­e in Kalifornie­n und Vizepräsid­ent des PharmaUnte­rnehmens Novo Nordisk. Er forscht seit 30 Jahren auf dem Gebiet von Autoimmune­rkrankunge­n und Virusinfek­tionen. Er ist nicht an der Entwicklun­g von Covid-Impfstoffe­n oder Covid-Medikament­en beteiligt.

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