„Was wir beobachten, ist Putins Abgesang“
Der finnische Präsident Stubb fordert Härte gegenüber dem Kremlchef. Eine Diskussion über die russischen roten Linien hält er für sinnlos
STUBB: Ja, vier taktische Verbände wurden aus dem Gebiet des Militärbezirks Leningrad, das an Finnland grenzt, abgezogen und an die Front in der Ukraine verlegt. Aus unserer Sicht ändert sich durch derartige Maßnahmen jedoch nicht viel. Wir gehen davon aus, dass Russland in den nächsten fünf Jahren in der Lage sein wird, seine Streitkräfte wiederaufzubauen und neu zu formieren. Aus militärischer Sicht wird Russland also nicht schwächer, sondern stärker werden. Deshalb ist es gut, dass finnische Soldaten in Nato-Kommandos dienen und Nato-Soldaten in Finnland stationiert sind.
WELT: Mit dem Beitritt zur Nato sind Sie jedoch ein Ziel für russische Raketen geworden.
STUBB: Vielmehr sind wir ein Ziel für die russische Militärpropaganda geworden. Aus strategischer Sicht sind wir kein wichtiges Ziel. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Nato noch nie angegriffen wurde. Das hat einen einfachen Grund: Artikel 5 des Washingtoner Paktes sieht die Unterstützung eines angegriffenen Landes durch Bündnismitglieder vor.
WELT: Dennoch wird der hybride Krieg Russlands gegen die Nato ernsthaft fortgesetzt.
STUBB: Russland führt derzeit zwei Arten von Krieg: einen konventionellen Krieg in der Ukraine und einen hybriden Krieg in der ganzen Welt. Um dem entgegenzutreten, müssen wir vorbereitet und wachsam sein. Wir müssen auf die nächsten Wellen von Desinformation, Cyberangriffen und Sabotage vorbereitet sein.
WELT: Wie hart kann Europa in dieser Lage mit Russland reden?
STUBB: Sicherlich härter als früher. Der Schwerpunkt der Nato hat sich aus offensichtlichen Gründen nach Osten verlagert. Polen und Finnland sind heute Länder in ähnlichen Situationen. Wir sind im Bündnis untrennbar miteinander verbunden. Wir haben die militärische Stärke, um mit einer solchen Situation fertig zu werden. Wir müssen auch geistig darauf vorbereitet sein. Und ich bin sicher, dass wir das auch sein werden, wenn es nötig ist. Russland missbraucht Menschenleben. Es instrumentalisiert Migranten an unseren Grenzen, die Moskau unter anderem über Belarus schickt. Es ist wichtig, dass wir uns gegenseitig unterstützen. Beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wird derzeit die Instrumentalisierung von Migranten verhandelt (es geht um die Beschwerde einer Gruppe von Migranten gegen Pushbacks durch den polnischen Grenzschutz im Jahr 2021, Anm. d. Red.). Finnland wird intervenieren und Polen verteidigen.
WELT: Der Fall, von dem Sie sprechen, ist darauf zurückzuführen, dass es an der polnisch-belarussichen Grenze zu Menschenrechtsverletzungen gekommen ist.
STUBB: Deshalb ist es so schwierig. In Finnland diskutieren wir über eine neue
Außenpolitik, die ich als wertebasierten Realismus bezeichne. Einerseits wollen wir Werte wie Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit respektieren und verteidigen und eine wertebasierte internationale Ordnung erhalten. Andererseits müssen wir realistisch bleiben und schwierige Kompromisse eingehen. Wenn Russland Migranten instrumentalisiert, ist das keine Frage der Asylpolitik. Es ist eine sicherheitspolitische Frage.
WELT: An der polnisch-weißrussischen Grenze sind Menschen gestorben ....
STUBB: Deshalb sind Rechtsvorschriften erforderlich, um sicherzustellen, dass so etwas nicht passiert. Um in unsere Systeme einzudringen, verstecken sich Russland und Belarus hinter unserer Notwendigkeit, die Rechtsstaatlichkeit und das Völkerrecht zu verteidigen. Dabei versteht Russland selbst nur die Sprache der Gewalt.
WELT: Sie sprechen davon, mit Gewalt zu antworten, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz fordert dagegen für ein Ende des Krieges in der Ukraine eine Friedenskonferenz mit Russland. Ist das nicht zu früh? STUBB: Frieden kann man nicht erreichen, ohne darüber zu reden. Aber der Zeitpunkt ist entscheidend. Es geht um die Frage, zu wessen Bedingungen Frieden geschlossen werden soll, wo und wann. Diese Fragen müssen vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj beantwortet werden. Ich habe mit