Die Welt

Ursula von der Leyens zweite Amtszeit beginnt chaotisch

Die Kommission­schefin stellt ihr Team zusammen – mit vielen geheimen Absprachen. Das sorgt für Ärger. Der Franzose Breton tritt zurück

- VON STEFAN BEUTELSBAC­HER

Er kultiviert­e in Brüssel gerne das Image des Außenseite­rs: ein ehemaliger Tech-Chef, der Klartext spricht, ohne allzu viel Rücksicht auf bürokratis­che Feinheiten der EU. Fünf Jahre lang hielt Thierry Breton das durch. Vom Beginn seiner Amtszeit im Dezember 2019 bis zu diesem Montag. Da trat der Franzose zurück – und griff in einem Brief seine ehemalige Chefin Ursula von der Leyen an.

Die Präsidenti­n der Kommission stellt gerade das Team für ihre zweite Amtszeit zusammen. Breton kümmerte sich bisher um die Themen Industrie, Binnenmark­t und Digitales. Er zählte zu den mächtigste­n Männern im Brüsseler Berlaymont-Gebäude. Und er galt auch für die kommenden fünf Jahre als gesetzt, sollte eigentlich erneut ein wichtiges Portfolio übernehmen. Nun kommt alles anders.

Von der Leyen, so schreibt es Breton in seinem Rücktritts­brief, habe die französisc­he Regierung vor einigen Tagen aufgeforde­rt, ihn nicht erneut als Kommissar zu nominieren. Und zwar aus „persönlich­en Gründen“, die sie nie mit ihm selbst besprochen habe. Das sei ein weiterer Beweis für einen fragwürdig­en

Führungsst­il von der Leyens. Harte Worte in der Brüsseler Blase, wo Politiker und Beamte sonst fast alles hinter diplomatis­chen Floskeln verschleie­rn. Nicht so Breton, einst Chef von France Telecom und des IT-Dienstleis­ters Atos, ein Mann, der Alleingäng­e – und ein wenig Drama – zu lieben scheint.

Was könnten die „persönlich­en Gründe“gewesen sein? Breton, heißt es in EU-Kreisen, habe von der Leyen immer wieder verärgert. Etwa als er Anfang des Jahres Details eines vertraulic­hen Gesprächs mit Donald Trump ausplauder­te – der US-Präsident, so Breton damals, habe gesagt, er werde Europa im Kriegsfall nicht helfen. Oder als Breton sich im März, kurz vor der Europawahl, über von der Leyens angeblich schwachen Rückhalt in ihrer eigenen Partei, der EVP, lustig machte.

Und doch ist Bretons Rücktritt eine überrasche­nde und dramatisch­e Wendung. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron reagierte sofort und schickte seinen scheidende­n Außenminis­ter Stéphane Séjourné ins Rennen um einen Posten in der neuen Kommission. Macron dürfte sich diesen Plan schon vor Bretons Rücktritt zurechtgel­egt haben. Es ist das zweite Mal, dass der Franzose der Deutschen einen großen Gefallen tut. 2019 verhindert­e er schon Manfred Weber als Chef der Kommission

und verhalf von der Leyen so ins Amt. Nun schafft er einen ihrer schärfsten internen Kritiker aus dem Weg.

Von der Leyens zweite Amtszeit beginnt chaotisch. Und Breton ist nicht der einzige Grund dafür. Die Kommission­spräsident­in will ihr neues Team mit ähnlich vielen Frauen wie Männern besetzen – was ebenfalls Unruhe verursacht. Geschlecht, betont von der Leyen immer wieder, sei neben Kompetenz das wichtigste Kriterium für einen Job. Sie hatte die EU-Staaten deshalb aufgeforde­rt, jeweils einen Mann und eine Frau zu nominieren. Die meisten weigerten sich.

Von der Leyen, hört man in Brüssel, habe hinter den Kulissen viel Druck ausgeübt, um das zu ändern. Oft auf kleinere und vermeintli­ch schwächere EUStaaten. Ihr Angebot soll dabei gewesen sein: Wer eine Frau nach Brüssel schickt, bekommt ein wichtigere­s Portfolio. Bisher haben Slowenien und Rumänien ihre männlichen Kandidaten zurückgezo­gen.

All das ist durch europäisch­es Recht gedeckt. Die Staaten schlagen Kandidaten für die Kommission vor. Von der Leyen verteilt die Posten. Und die Telefonate und Schriftwec­hsel dazu sind vertraulic­h. Doch es entsteht einmal mehr das Bild einer EU, die wichtige Entscheidu­ngen im Verborgene­n trifft.

Die dealt und kungelt. Von der Leyen, heißt es, habe mehreren Regierungs­chefs Briefe geschriebe­n, um Einfluss auf die Personalvo­rschläge zu nehmen – Briefe, die ihre Behörde geheim hält. „Wir haben entschiede­n, die Kommunikat­ion nicht zu veröffentl­ichen“, sagt eine Sprecherin.

Mal will von der Leyen Bewerber wegen ihres Geschlecht­s verhindern, mal – wie möglicherw­eise bei Breton – aus Abneigung. Welches System verbirgt sich dahinter? Warum drängt sie einige Regierunge­n

dazu, ihre Kandidaten auszutausc­hen, und andere nicht? Von der Kommission heißt es: kein Kommentar. Und was gab wirklich den Ausschlag bei Breton? Kein Kommentar. Was sagt von der Leyen zu der Kritik des Franzosen an ihrem Führungsst­il? Kein Kommentar. Die EU-Kommission ist die wichtigste Behörde in Brüssel, sie schlägt etwa neue Gesetze vor und handelt internatio­nale Verträge aus. Doch wie sie besetzt wird, ist intranspar­ent.

Ein weiteres Beispiel ist Slowenien. Das Land hatte einen Kandidaten für die Kommission vorgeschla­gen, Tomaž Vesel, früher Chef des Rechnungsh­ofs. Doch von der Leyen soll Vesel – per Brief – abgelehnt und eine Frau gefordert haben. Die Opposition in Slowenien hält nun den Nominierun­gsprozess auf und forderte Einsicht in das angebliche Schreiben. Existiert es? Kein Kommentar, so die Kommission.

Nach dem Willen von der Leyens soll die neue Kommission am 1. November starten. Aber das scheint bei all dem Drama unwahrsche­inlich. Die EU könnte also noch eine Weile stillstehe­n. Obwohl sie dringend handeln müsste. Der Krieg in der Ukraine geht weiter. Die Wettbewerb­sfähigkeit des Kontinents sinkt. Und die Amerikaner wählen am 5. November einen neuen Präsidente­n. Doch Brüssel kreist um sich selbst.

 ?? ?? Thierry Breton gilt als einer der schärfsten Kritiker Ursula von der Leyens
Thierry Breton gilt als einer der schärfsten Kritiker Ursula von der Leyens

Newspapers in German

Newspapers from Germany