Ursula von der Leyens zweite Amtszeit beginnt chaotisch
Die Kommissionschefin stellt ihr Team zusammen – mit vielen geheimen Absprachen. Das sorgt für Ärger. Der Franzose Breton tritt zurück
Er kultivierte in Brüssel gerne das Image des Außenseiters: ein ehemaliger Tech-Chef, der Klartext spricht, ohne allzu viel Rücksicht auf bürokratische Feinheiten der EU. Fünf Jahre lang hielt Thierry Breton das durch. Vom Beginn seiner Amtszeit im Dezember 2019 bis zu diesem Montag. Da trat der Franzose zurück – und griff in einem Brief seine ehemalige Chefin Ursula von der Leyen an.
Die Präsidentin der Kommission stellt gerade das Team für ihre zweite Amtszeit zusammen. Breton kümmerte sich bisher um die Themen Industrie, Binnenmarkt und Digitales. Er zählte zu den mächtigsten Männern im Brüsseler Berlaymont-Gebäude. Und er galt auch für die kommenden fünf Jahre als gesetzt, sollte eigentlich erneut ein wichtiges Portfolio übernehmen. Nun kommt alles anders.
Von der Leyen, so schreibt es Breton in seinem Rücktrittsbrief, habe die französische Regierung vor einigen Tagen aufgefordert, ihn nicht erneut als Kommissar zu nominieren. Und zwar aus „persönlichen Gründen“, die sie nie mit ihm selbst besprochen habe. Das sei ein weiterer Beweis für einen fragwürdigen
Führungsstil von der Leyens. Harte Worte in der Brüsseler Blase, wo Politiker und Beamte sonst fast alles hinter diplomatischen Floskeln verschleiern. Nicht so Breton, einst Chef von France Telecom und des IT-Dienstleisters Atos, ein Mann, der Alleingänge – und ein wenig Drama – zu lieben scheint.
Was könnten die „persönlichen Gründe“gewesen sein? Breton, heißt es in EU-Kreisen, habe von der Leyen immer wieder verärgert. Etwa als er Anfang des Jahres Details eines vertraulichen Gesprächs mit Donald Trump ausplauderte – der US-Präsident, so Breton damals, habe gesagt, er werde Europa im Kriegsfall nicht helfen. Oder als Breton sich im März, kurz vor der Europawahl, über von der Leyens angeblich schwachen Rückhalt in ihrer eigenen Partei, der EVP, lustig machte.
Und doch ist Bretons Rücktritt eine überraschende und dramatische Wendung. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron reagierte sofort und schickte seinen scheidenden Außenminister Stéphane Séjourné ins Rennen um einen Posten in der neuen Kommission. Macron dürfte sich diesen Plan schon vor Bretons Rücktritt zurechtgelegt haben. Es ist das zweite Mal, dass der Franzose der Deutschen einen großen Gefallen tut. 2019 verhinderte er schon Manfred Weber als Chef der Kommission
und verhalf von der Leyen so ins Amt. Nun schafft er einen ihrer schärfsten internen Kritiker aus dem Weg.
Von der Leyens zweite Amtszeit beginnt chaotisch. Und Breton ist nicht der einzige Grund dafür. Die Kommissionspräsidentin will ihr neues Team mit ähnlich vielen Frauen wie Männern besetzen – was ebenfalls Unruhe verursacht. Geschlecht, betont von der Leyen immer wieder, sei neben Kompetenz das wichtigste Kriterium für einen Job. Sie hatte die EU-Staaten deshalb aufgefordert, jeweils einen Mann und eine Frau zu nominieren. Die meisten weigerten sich.
Von der Leyen, hört man in Brüssel, habe hinter den Kulissen viel Druck ausgeübt, um das zu ändern. Oft auf kleinere und vermeintlich schwächere EUStaaten. Ihr Angebot soll dabei gewesen sein: Wer eine Frau nach Brüssel schickt, bekommt ein wichtigeres Portfolio. Bisher haben Slowenien und Rumänien ihre männlichen Kandidaten zurückgezogen.
All das ist durch europäisches Recht gedeckt. Die Staaten schlagen Kandidaten für die Kommission vor. Von der Leyen verteilt die Posten. Und die Telefonate und Schriftwechsel dazu sind vertraulich. Doch es entsteht einmal mehr das Bild einer EU, die wichtige Entscheidungen im Verborgenen trifft.
Die dealt und kungelt. Von der Leyen, heißt es, habe mehreren Regierungschefs Briefe geschrieben, um Einfluss auf die Personalvorschläge zu nehmen – Briefe, die ihre Behörde geheim hält. „Wir haben entschieden, die Kommunikation nicht zu veröffentlichen“, sagt eine Sprecherin.
Mal will von der Leyen Bewerber wegen ihres Geschlechts verhindern, mal – wie möglicherweise bei Breton – aus Abneigung. Welches System verbirgt sich dahinter? Warum drängt sie einige Regierungen
dazu, ihre Kandidaten auszutauschen, und andere nicht? Von der Kommission heißt es: kein Kommentar. Und was gab wirklich den Ausschlag bei Breton? Kein Kommentar. Was sagt von der Leyen zu der Kritik des Franzosen an ihrem Führungsstil? Kein Kommentar. Die EU-Kommission ist die wichtigste Behörde in Brüssel, sie schlägt etwa neue Gesetze vor und handelt internationale Verträge aus. Doch wie sie besetzt wird, ist intransparent.
Ein weiteres Beispiel ist Slowenien. Das Land hatte einen Kandidaten für die Kommission vorgeschlagen, Tomaž Vesel, früher Chef des Rechnungshofs. Doch von der Leyen soll Vesel – per Brief – abgelehnt und eine Frau gefordert haben. Die Opposition in Slowenien hält nun den Nominierungsprozess auf und forderte Einsicht in das angebliche Schreiben. Existiert es? Kein Kommentar, so die Kommission.
Nach dem Willen von der Leyens soll die neue Kommission am 1. November starten. Aber das scheint bei all dem Drama unwahrscheinlich. Die EU könnte also noch eine Weile stillstehen. Obwohl sie dringend handeln müsste. Der Krieg in der Ukraine geht weiter. Die Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents sinkt. Und die Amerikaner wählen am 5. November einen neuen Präsidenten. Doch Brüssel kreist um sich selbst.