Über dem Abgrund
Die Kunst will gerne politisch sein und ist deshalb mitunter laut und schrill. Aber läge ihre Macht nicht vielmehr in den leisen Tönen, wie sie etwa vor Kurzem bei einer vom Außenministerium initiierten Matinee, bei der Musiker israelischer, iranischer un
Die diesjährigen Wiener Festwochen stehen ganz im Zeichen der Politisierung der Kunst. Was bedeutet das? Ideologische Positionierung, Parteinahme, Aktionismus, pathetische Aufrufe, theatralische Prozesse gegen politische Akteure. Verstärkt dies nicht die viel beschworene Spaltung der Gesellschaft? Sollte die Kunst nicht dazu beitragen, Gegensätze zu über- winden, Feinde zu versöhnen? Vor allem der Musik wird diese Kraft gerne zugeschrieben, man denke an Initiativen wie Daniel Barenboims WestEastern Divan Orchestra. Solchem Engagement liegt die Überzeugung zugrunde, dass Musik eine universale Sprache ist, die keiner Übersetzung bedarf.
Empirische Untersuchungen haben tatsächlich gezeigt, dass bestimmte Tonfolgen kulturunabhängig fundamentalen Gefühlen wie Freude, Trauer oder Liebe zugeordnet werden. Selbst knappe Melodiefragmente werden in Hinblick auf ihre Effekte übereinstimmend charakterisiert, zum Beispiel als animierendes Tanzlied oder beruhigender Schlafgesang. Musik muss nicht wie andere Signalsysteme erst erlernt werden, sie kann unmittelbar mit- und nachvollzogen werden.
Eine Erklärung dafür liegt darin, dass Musik imstande ist, Emotionen nicht nur darzustellen und zu illustrieren, sondern hervorzurufen. Musik versetzt uns in eine ganz besondere Stimmungslage. Der Gedanke liegt nahe, dass gemeinsames Musizieren, gemeinsames Hören oder die Auseinandersetzung mit einem Werk die oft schwierigen Prozesse gegenseitigen Verstehens erleichtern, weil die emotionale Basis durch die Musik für alle gleichermaßen gegeben ist.
Man sollte aber vorsichtig sein. Die Tonkunst kann sehr wohl in einem engen, bornierten Sinn aufgefasst werden. Auch Musik kann instrumentalisiert und politisch missbraucht werden. Zu eingängigen Melodien lässt sich alles Mögliche grölen. Musik hat immer wieder dazu gedient, ethnischen, sozialen oder religiösen Gruppen ihre Identität und Exklusivität zu bestätigen und damit das Trennende über das Verbindende zu stellen.
Und dennoch: Im musikalischen Erleben erfahren wir schlechthin etwas über die Dimensionen des Menschlichen. Und deshalb gibt es keine Musik, die dort stehenbleiben müsste, wo sie die historische Bedingtheit ihrer Entstehung lokalisiert hat.
Wir können die Musik vergangener Jahrhunderte hören, ohne den Eindruck zu haben, in einem akustischen Museum zu sein. Die herausragenden Werke der Musikgeschichte – gleich, wann und wo sie entstanden – überschreiten den Horizont ihrer eigenen Zeit. So ermöglichen sie jene beglückende Erfahrung, die uns aus dem starren Korsett politischer, historischer oder sozialer Zuschreibungen befreit. In der Auseinandersetzung mit diesen Werken spüren wir, dass es etwas gibt, das größer ist als wir selbst. Sich um dieses Größere zu bemühen, kann dazu beitragen, die Enge unserer Gedanken- und Gefühlswelt zu verlassen und einen Schritt auf den Anderen zuzugehen.
Es handelt sich dabei nicht um ein vordergründiges Einebnen von Differenzen durch ein kitschiges Harmonieversprechen. Traut man dem Mythos, ging Harmonía, die Göttin der Eintracht, aus der ehebrecherischen Beziehung zwischen Ares und Aphrodite hervor. Die Harmonie ist der Spross der größten Gegensätze, die sich denken lassen: Liebe und Krieg. Die Erzeugung von Harmonie besteht in der Kunst, das, was auseinanderstrebt, nicht zueinander zu passen scheint, dennoch zu einem stimmigen Ganzen zusammenzufügen und zum Erklingen zu bringen.
Die Kunst wird die großen Probleme unserer Zeit nicht lösen. Sie wird die gewaltsam ausgetragenen Konflikte nicht einfach zudecken können. Sie kann nur versuchen, einen zarten Bogen der Einfühlung, der Anteilnahme und der Schönheit über die Abgründe des Menschlichen zu spannen. Das ist nicht viel. Aber in besonderen Momenten fast alles.