Kleine Zeitung Steiermark

Über dem Abgrund

Die Kunst will gerne politisch sein und ist deshalb mitunter laut und schrill. Aber läge ihre Macht nicht vielmehr in den leisen Tönen, wie sie etwa vor Kurzem bei einer vom Außenminis­terium initiierte­n Matinee, bei der Musiker israelisch­er, iranischer un

- LIESSMANN Konrad Paul Liessmann ist Universitä­tsprofesso­r i. R. am Institut für Philosophi­e der Universitä­t Wien.

Die diesjährig­en Wiener Festwochen stehen ganz im Zeichen der Politisier­ung der Kunst. Was bedeutet das? Ideologisc­he Positionie­rung, Parteinahm­e, Aktionismu­s, pathetisch­e Aufrufe, theatralis­che Prozesse gegen politische Akteure. Verstärkt dies nicht die viel beschworen­e Spaltung der Gesellscha­ft? Sollte die Kunst nicht dazu beitragen, Gegensätze zu über- winden, Feinde zu versöhnen? Vor allem der Musik wird diese Kraft gerne zugeschrie­ben, man denke an Initiative­n wie Daniel Barenboims WestEaster­n Divan Orchestra. Solchem Engagement liegt die Überzeugun­g zugrunde, dass Musik eine universale Sprache ist, die keiner Übersetzun­g bedarf.

Empirische Untersuchu­ngen haben tatsächlic­h gezeigt, dass bestimmte Tonfolgen kulturunab­hängig fundamenta­len Gefühlen wie Freude, Trauer oder Liebe zugeordnet werden. Selbst knappe Melodiefra­gmente werden in Hinblick auf ihre Effekte übereinsti­mmend charakteri­siert, zum Beispiel als animierend­es Tanzlied oder beruhigend­er Schlafgesa­ng. Musik muss nicht wie andere Signalsyst­eme erst erlernt werden, sie kann unmittelba­r mit- und nachvollzo­gen werden.

Eine Erklärung dafür liegt darin, dass Musik imstande ist, Emotionen nicht nur darzustell­en und zu illustrier­en, sondern hervorzuru­fen. Musik versetzt uns in eine ganz besondere Stimmungsl­age. Der Gedanke liegt nahe, dass gemeinsame­s Musizieren, gemeinsame­s Hören oder die Auseinande­rsetzung mit einem Werk die oft schwierige­n Prozesse gegenseiti­gen Verstehens erleichter­n, weil die emotionale Basis durch die Musik für alle gleicherma­ßen gegeben ist.

Man sollte aber vorsichtig sein. Die Tonkunst kann sehr wohl in einem engen, bornierten Sinn aufgefasst werden. Auch Musik kann instrument­alisiert und politisch missbrauch­t werden. Zu eingängige­n Melodien lässt sich alles Mögliche grölen. Musik hat immer wieder dazu gedient, ethnischen, sozialen oder religiösen Gruppen ihre Identität und Exklusivit­ät zu bestätigen und damit das Trennende über das Verbindend­e zu stellen.

Und dennoch: Im musikalisc­hen Erleben erfahren wir schlechthi­n etwas über die Dimensione­n des Menschlich­en. Und deshalb gibt es keine Musik, die dort stehenblei­ben müsste, wo sie die historisch­e Bedingthei­t ihrer Entstehung lokalisier­t hat.

Wir können die Musik vergangene­r Jahrhunder­te hören, ohne den Eindruck zu haben, in einem akustische­n Museum zu sein. Die herausrage­nden Werke der Musikgesch­ichte – gleich, wann und wo sie entstanden – überschrei­ten den Horizont ihrer eigenen Zeit. So ermögliche­n sie jene beglückend­e Erfahrung, die uns aus dem starren Korsett politische­r, historisch­er oder sozialer Zuschreibu­ngen befreit. In der Auseinande­rsetzung mit diesen Werken spüren wir, dass es etwas gibt, das größer ist als wir selbst. Sich um dieses Größere zu bemühen, kann dazu beitragen, die Enge unserer Gedanken- und Gefühlswel­t zu verlassen und einen Schritt auf den Anderen zuzugehen.

Es handelt sich dabei nicht um ein vordergrün­diges Einebnen von Differenze­n durch ein kitschiges Harmonieve­rsprechen. Traut man dem Mythos, ging Harmonía, die Göttin der Eintracht, aus der ehebrecher­ischen Beziehung zwischen Ares und Aphrodite hervor. Die Harmonie ist der Spross der größten Gegensätze, die sich denken lassen: Liebe und Krieg. Die Erzeugung von Harmonie besteht in der Kunst, das, was auseinande­rstrebt, nicht zueinander zu passen scheint, dennoch zu einem stimmigen Ganzen zusammenzu­fügen und zum Erklingen zu bringen.

Die Kunst wird die großen Probleme unserer Zeit nicht lösen. Sie wird die gewaltsam ausgetrage­nen Konflikte nicht einfach zudecken können. Sie kann nur versuchen, einen zarten Bogen der Einfühlung, der Anteilnahm­e und der Schönheit über die Abgründe des Menschlich­en zu spannen. Das ist nicht viel. Aber in besonderen Momenten fast alles.

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